Australien 01 - Wo der Wind singt
weiter, an Seegras und Muscheln vorbei, die den vollkommenen Glanz des Sandes befleckten. Kate nahm all das in sich auf. Angefangen bei den winzigen Sandkörnchen in Matildas Mähne bis hin zu den großen, mit Bäumen bestandenen Bergen, die weiter im Landesinneren aufragten. Sie gestattete es sich jedoch nicht, zu der Stelle hinüberzusehen, an der Will gestorben war. Die Vorstellung, welche Angst und welche Qual er erlitten haben musste, als seine Seele diese Erde verlassen hatte und auf die See hinausgeflogen war, war einfach noch zu schmerzlich für sie.
Obwohl Matilda bereits heftig atmete, trieb Kate sie zu einem noch schnelleren Tempo an. Die tapfere kleine Stute gab ihr Bestes und galoppierte mit trommelnden Hufen über den Sand. Viele Meilen lagen jetzt schon hinter ihnen, während vor ihnen zerklüftete Felsen aufragten.
Als sie endlich das Ende des Strandes erreichten, ließ Kate Matilda wieder in den Schritt fallen. Sie spürte, wie sich die Flanken des Pferdes unter ihren Beinen hoben und senkten. Kate ließ die Zügel locker, beugte sich im Sattel nach vorn und presste ihre kalte Wange an Matildas heißen Hals. Schweißflocken, so weiß wie die Gischt des Meeres, sammelten sich auf ihrer Brust. Kate atmete den Geruch des Schweißes ein und lauschte dem Atmen der Stute. Auf einem steingrauen abgestorbenen Eukalyptusbaum saß eine Krähe und schrie. Kate nahm ihr Krächzen jedoch nicht wahr. Sie hörte nur den Wind, die Wellen und den Schrei der Möwen, die wie Geister durch das neblige Grau vor ihr schwebten.
Kapitel 11
K ates lederne Blunnies waren inzwischen getrocknet und dabei ganz steif geworden. Das Salzwasser hatte kleine Gezeitenmarken an ihnen hinterlassen. Sie verzog das Gesicht, als sie die Stiefel von ihren schrumpeligen Füßen zog und ihre durchnässten, sandigen Socken abstreifte. Dann war es so weit. Zum ersten Mal seit mehr als drei Jahren betrat sie wieder das Farmhaus von Bronty. Als Kate den Fuß über die Schwelle setzte, sah sie sich einer völlig übertriebenen femininen Inneneinrichtung gegenüber. Überall Spitzen und Rüschen, Pfirsich- und Rosatöne, vergoldete Rahmen und Porzellan.
»O mein Gott«, sagte sie, als sie die Porzellanfigur einer traurigen, kleinen Veilchenverkäuferin in die Hand nahm. Unzählige Sandkörner lösten sich von Kates noch feuchter Hose und fielen auf den flauschigen, cremefarbenen Teppich. Sie ging an Drucken mit Rosenbuketts, die an den frisch gestrichenen pfirsichfarbenen Wänden hingen, und an edlen, polierten Möbeln mit gedrechselten Holzbeinen, die so zart wie die von Rehen wirkten, vorbei. Wo war der große alte Garderobenständer geblieben, der unter den Hüten, Schirmen und Mützen immer fast zusammengebrochen war? Wo die große alte Uhr mit dem vergilbten Zifferblatt, die immer so zuverlässig gewesen war? Wo waren die alten Stubbs-Drucke von dösenden kastanienbraunen Stuten und ihren Fohlen? Sie hoffte inständig, dass Annabelles Renovierungswut noch nicht das Dachgeschoss erreicht hatte. Allerdings war sie sich sicher, dass es Will gelungen wäre, sie zumindest von den kostbaren Sämereien, die dort in ihren braunen Umschlägen lagerten, mit aller Macht fernzuhalten.
Der alte Läufer im Flur, der die Farbe von Ulmen im Sommer hatte, führte Kate nicht mehr über den glänzenden Holzboden zur Küche.
Stattdessen sanken ihre Füße in einen tiefen Teppich ein, der sich anfühlte, als würde sie über Marshmallows laufen. Überall, wo ihr
Blick hinfiel, suchte sie verzweifelt nach Spuren von Will und von ihrem alten Leben. Sie fand keine einzige mehr. Panik erfasste sie. Plötzlich war ihr so schwindelig, dass sie einen Moment lang stehen bleiben und tief durchatmen musste, während sie sich mit einer Hand an der Wand abstützte.
Aus der Küche am Ende des Flurs drangen laute Geräusche. Tassen klirrten und Besteck klapperte. Sie hörte Stimmen und ein helles, beharrliches Brummen. Offensichtlich spielte Nell gerade mit einem Spielzeugtraktor.
»Brrrrr, brrrr, brrrmmmmm.«
Kate stand in der Tür und betrachtete die Szene, die sich vor ihren Augen abspielte und die trotz der außergewöhnlichen Umstände so normal wirkte. Annabelle stand an der Spüle und wusch gerade eine gläserne Servierplatte ab. Janie beugte sich über den Geschirrspüler und sortierte Löffel und Messer genauso sorgfältig ein, wie sie anschließend die Porzellantassen exakt hintereinanderreihte. Annabelle hatte ihr offenbar genaue Anweisungen gegeben, dachte
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