Australien 01 - Wo der Wind singt
zeigte sich, dass Laney das große Geschick besessen hatte, jedem Sammelsurium von Dingen ein ansprechendes Gesicht zu geben.
Denn genau das war der Dachboden: ein wohl organisiertes, kunstvolles Sammelsurium. Nur der Schreibtisch, an dem Henry saß, war umgestellt worden. Es standen keine anderen Dinge mehr darauf, und er war auch nicht mit Staub bedeckt. Man hatte ihn vor das Fenster geschoben, das aufs Meer hinaussah. Daneben stand ein Aktenschrank aus Holz. Kate sah jedoch, dass ein gerahmtes Foto von Matilda auf dem Schreibtisch stand, auf deren breitem Rücken, mit hechelnden Zungen und gespitzten Ohren Wills Hunde lagen. Das Foto war offensichtlich erst vor Kurzem aufgenommen worden. Daneben stand eine alte Zigarrenkiste, in der mehrere nagelneue Stifte lagen.
»Hi«, sagte Kate leise.
Henry fuhr mit den Fingerspitzen über die Kante des Schreibtisches. »Das hat er für dich gemacht«, sagte er.
Kate wusste sofort, was ihr Vater meinte. Dieser Schreibtisch, all die kleinen Veränderungen, das hatte Will arrangiert. Für sie. Um ihr das Gefühl zu geben, hier willkommen zu sein. Um ihr in diesem Haus einen Platz zu geben, den sie für sich allein hatte. Kate verzog voller Kummer das Gesicht. Sie ging zu dem Schreibtisch hinüber und legte ihre Hand auf dessen polierte Holzplatte. Als Henry ihr unglückliches Gesicht sah, stand er auf und nahm sie in seine Arme.
Sie spürte seine große Hand auf ihrem Hinterkopf, die ihre Wange fest an seine Brust gedrückt hielt. Sie kniff die Augen zusammen, wollte den Kummer, der auch in seiner Brust steckte, nicht hören. Das leise, krampfhafte Keuchen. Seine Muskeln waren angespannt. Zitterten. Er hielt sie so fest an sich gepresst, dass ihr Nacken zu schmerzen begann. Ein Knopf seines Hemdes drückte in ihre Wange. Jetzt klopfte er mit der Hand leicht auf ihren Rücken. Es war ein rhythmisches Schlagen mit der flachen Hand. So wie man einem Ochsen auf die Hinterbacken schlägt, damit er sich in Bewegung setzt. In seiner Berührung lag sowohl Zorn als auch Liebe. Er hielt sie fest an sich gedrückt. Aggressiv, leidenschaftlich, schmerzhaft, liebevoll.
»Es tut mir alles so leid«, gelang es ihr schließlich hervorzustoßen. Sie bedauerte, dass sie so wütend auf ihren Vater gewesen war. Dass sie ihn verlassen hatte. Dass sie schwanger geworden war. Sie bedauerte,
dass sie Will immer wieder enttäuscht hatte. Und sie bedauerte, dass ihr Vater sie nicht lieben konnte. Sie wusste, dass er das wegen ihrer Mutter nicht konnte.
Sie klammerte sich ärgerlich an ihn. Ihre Fingernägel gruben sich in seine Haut. Irgendwann hörte sie dann auch ihn murmeln, dass es ihm leidtäte.
Die Nähe begann ihnen unangenehm zu werden. Als sie sich wieder voneinander lösten, konnten weder Vater noch Tochter dem jeweils anderen in die Augen sehen. Henry nahm seine Nickelbrille ab und wischte sich die Tränen aus den Augen.
»Er wollte hier oben ein paar Steckdosen legen, damit du deinen Computer anschließen kannst. Und ein Bett aufstellen. Falls du das gewollt hättest.«
Es waren Worte, die Kate wehtaten. Sie nickte, denn ihren Lippen wollte es einfach nicht gelingen, Worte zu formen. Ihr Mund fühlte sich völlig kraftlos an. Ihr Verstand, ihr Körper, alles befand sich in einer Art Schockzustand, war vor Verzweiflung wie gelähmt.
Henry setzte sich wieder in den Sessel und kaute dabei auf seiner Unterlippe herum. Plötzlich sah er unglaublich alt aus. Die weißen Strähnen in seinem Haar begannen die schwarzen zu verdrängen. Seine Augen, grau wie die See, schwammen in Tränen angesichts all des Schmerzes, den das Leben ihm bereitete. Der Schmerz, seine Ehefrau zu verlieren. Der Schmerz, seinen einzigen Sohn zu verlieren. Wenn er an Will dachte, würde ihm für den Rest seines Lebens das Herz wehtun. Kate sah ihn an.
»Vielleicht sollte ich besser gehen«, sagte sie schließlich leise. »Ich kann mit Nell erst einmal bei Janie bleiben.«
Er schüttelte den Kopf, kurz aber heftig.
»Nein. Bitte, bleib.«
Kate nickte, während ihr wieder Tränen über die Wangen liefen. Der Schmerz war so groß, dass sie glaubte, sie würde gleich zusammenbrechen. Der Schmerz zu wissen, dass ihr Vater sie wieder unter seinem Dach aufgenommen hätte, wenn sie ihn darum gebeten hätte. Aber dazu war sie zu stolz gewesen. All die sinnlos vergeudeten Jahre,
in denen Nell ohne Will vom Baby zum Kleinkind herangewachsen war. Jetzt war es zu spät. Sie starrte das vertraute Muster des alten
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