Australien 01 - Wo der Wind singt
mehr viel Platz für anderes blieb. Sie setzte sich auf das Bett und starrte das Foto an der Wand an. Ein junger Will in Shorts, übers ganze Gesicht strahlend, der einen Hundewelpen und ein Lamm knuddelte. Neben ihm Kate, die eine Milchflasche mit einem schwarzen Gummisauger in der Hand hielt und eine alberne Grimasse schnitt.
Kate starrte das Foto an und versuchte verzweifelt, die Gerüche, Geräusche und Einzelheiten jenes Tages, an dem ihre Mutter dieses Foto gemacht hatte, heraufzubeschwören. Sie nahm Wills Kopfkissen von seinem hastig gemachten Bett und atmete dessen Geruch ein, während ihre Tränen auf dem Stoff dunkle Flecken hinterließen.
Als sie wieder aufsah, stellte sie erschrocken fest, das Aden vor ihr stand. Sie wandte den Kopf ab und wischte sich die Tränen aus den Augen. Sie bemerkte, wie sich die Matratze bewegte, als Aden sich neben sie setzte. Dann spürte sie, wie er einen Arm um ihre Schultern legte und sie an sich zog.
»Schhh. Schhhh … ist ja schon gut«, flüsterte er. Kate ließ sich von Aden halten und lehnte ihren Kopf an seine Brust. Als sie in sein Hemd weinte, merkte sie, dass sie den schwachen, erdigen Geruch von Will, der in seinem Bettzeug gehangen hatte, nicht mehr wahrnehmen konnte. Stattdessen hatte sie jetzt Adens Deodorant in der Nase. Sie entzog sich ihm.
»Katie, komm schon.« Er streckte die Hand aus und strich ihr ein
paar dunkle, glänzende Haarsträhnen, die ihr ins Gesicht gefallen waren, hinters Ohr. Kate fühlte sich plötzlich entblößt und verletzlich. »Wir werden das schon durchstehen.«
Sie schob ihn von sich weg.
»Lass mich in Ruhe!« Sie stand abrupt auf und stolperte aus dem Zimmer. Im dunklen Büro legte sie sich dann voll bekleidet und zitternd, in das schmale Rollbett. Sie zog die warme, schlafende Nellie an sich und weinte stumm in sich hinein, während sie dem sanften, gleichmäßigen Atem ihrer kleinen Tochter lauschte.
Kapitel 12
K ate sah die Mutterschafe. Mehr als tausend Stück, die den Hügel sprenkelten. Graue, wollige Kleckse, die in alle Himmelsrichtungen verstreut grasten. Das Tosen des Windes, der von der See her blies, war offenbar so laut, dass es das Geräusch des Dieselmotors von Kates Pick-up übertönte, denn die Schafe hoben ihre Köpfe erst, als Kate fast bei ihnen war. Auf der Ladefläche des Pick-ups war Wills Bordercollie Grumpy angebunden. Er spitzte die Ohren, aber eine plötzliche heftige Windböe veranlasste ihn, seine Ohren wieder anzulegen. Neben ihm hatte es sich Sheila bequem gemacht. Sie hatte sich in den Resten von Heu und dem Wirrwarr von Seilen, die auf der Ladefläche lagen, eine Art Nest gemacht. Die schlafende alte Hündin blinzelte nur ein paar Mal, als sie die Schafe witterte.
Die Mutterschafe drängten sich ein wenig enger zusammen, blieben dann aber ruhig stehen und wandten ihre Gesichter dem Fahrzeug zu. Will war es offenbar gelungen, ihnen ihre Scheu zu nehmen, wie Kate bemerkte. Er war wirklich ein ausgezeichneter Viehzüchter. Da seit seinem Tod gerade einmal zwei Wochen vergangen waren, war ihre Trauer noch frisch. Im Haus war der Kummer für Kate noch schwerer zu ertragen. Dort nämlich war ihr Verlust noch deutlicher zu spüren. Ihre Mutter und Will, ersetzt durch Fremde. Aber draußen im Freien spürte Kate ihre Mutter und ihren Bruder. Hier war sie zu Hause.
Kate zog die Handbremse an, stellte den Motor ab und vergewisserte sich, dass sie einen Gang eingelegt hatte. Dann drehte sie sich zu Nell um, die hinten in ihrem Kindersitz angeschnallt war.
»Ich habe nicht die geringste Ahnung, ob Onkel Wills Hund mit mir arbeitet, denn er kennt mich kaum. Ich gehe also ein bisschen zu Fuß, um ihm etwas dabei zu helfen. Willst du mitkommen oder lieber hier warten? Da draußen ist es ziemlich ekelhaft.«
Nell sah auf die windgepeitschte Weide hinaus.
»Hier warten«, sagte sie und lächelte voller Vorfreude, als Kate ihr eine Schachtel Sultaninen gab.
Draußen im Wind zog Kate sich ihre Kappe fest in die Stirn. Sie machte Grumpy von der Leine los. Er sprang von der Ladefläche des Pick-ups und schoss in Richtung der Schafe davon. Kate rief ihn jedoch mit einem schrillen Pfiff wieder zurück.
»Bei Fuß«, befahl sie ihm. Widerwillig trottete er auf sie zu und blieb dann hinter ihr stehen, während sie den Hügel hinaufsah und überlegte, wohin sie ihn schicken sollte. Bei diesem Wind waren die Schafe ziemlich schwierig zu handhaben. Außerdem könnte der Hund ihre Anweisungen kaum hören. Sie
Weitere Kostenlose Bücher