Australien 02 - Der Sternenleser
sich Rooke von Umständen, augenblicklichen Verhältnissen oder Bedürfnissen treiben lassen. Er hatte noch nie das Gefüge des Lebens in seine bloßen Hände nehmen und in eine andere Form biegen müssen. Hatte nie innegehalten und sich gefragt: Was tue ich da eigentlich?
Silks Logik schien unwiderlegbar: Die Expedition würde scheitern, und somit gab es keinen Grund, die Teilnahme zu verweigern. Doch wenn der Gouverneur lediglich zur Einschüchterung ein Theaterstück aufführen wollte, wo blieb dann das furchteinflößende Element? Wo blieb die abschreckende Wirkung, wenn die gewaltige Prozession auf keinen einzigen Eingeborenen traf, weil diese alle lachend hinter den Sträuchern standen, während der Trupp an ihnen vorüberzog?
»Die Logik ist eindeutig falsch.«
Rooke erschrak, als er merkte, dass er laut gesprochen hatte.
Dennoch blieb die wesentliche Tatsache bestehen: Die Expedition würde scheitern. Ob der Gouverneur nun tatsächlich sechs Eingeborene festzunehmen hoffte oder nicht, ob Silk dasselbe hoffte oder nicht, es war fast sicher, dass sich kein Eingeborener erwischen lassen würde.
Fast sicher.
»Aber man könnte die Sache deichseln«, sagte Rooke. Er merkte, dass man sich regelrecht angewöhnen konnte, Selbstgespräche zu führen. Die Worte laut zu hören, als hätte ein verständnisvoller Anderer sie ausgesprochen, der einen genauso gut kannte wie man sich selbst, ließ einen die Dinge klarer sehen.
»Ich könnte es deichseln.«
✶
R ooke hätte sich mit dem Vorsatz auf den Weg machen können, Warungin oder Boinbar zu suchen, doch dann hätte er sich eingestehen müssen, dass er genau wusste, was er im Sinn hatte. Stattdessen brach er zur Siedlung auf, als hätte er dort irgendetwas zu erledigen. Während er das holprige Gelände durchquerte, blickte er auf seine Füße und dachte nicht weiter als bis zum nächsten Schritt.
Er überließ einfach alles dem Zufall, und der Zufall wollte es, dass Boneda am Wegesrand auf einem Felsen saß. Der Junge hatte bestimmt nicht auf Rooke gewartet, zeigte sich aber nicht überrascht, als er ihn sah. Er streckte Rooke die Hand entgegen, in der er etwas umklammert hielt: eine dicke, noch nicht ganz tote Eidechse. Mit einem Schwall von Worten und Gesten, denen Rooke nur teilweise folgen konnte, erzählte ihm Boneda sinngemäß: Ich habe sie dort drüben gefangen, sie ist sehr schnell gelaufen, ich werde sie essen, und sie wird sehr gut schmecken .
Etwas geschah in den Augen der Eingeborenen, wenn sie lächelten, ein Aufblitzen unter ihren wulstigen Augenbrauen, wodurch ihr Lächeln gleichermaßen von innen heraus zu kommen schien wie vom Spiel ihrer Gesichtsmuskeln.
»Ich möchte Tagaran sehen.«
Sein Satz klang schroff und direkt, aber er musste sich klar ausdrücken und vertraute Bonedas Englisch mehr als seinem eigenen Cadigal .
»Sie soll mich besuchen kommen. Sie soll zu meiner Hütte kommen. Sagst du ihr bitte, kamara möchte sie sehen?«
Boneda erwiderte etwas, das Rooke nicht verstand, deutete mit seinem Stock grob in westliche Richtung, kletterte wieselflink die Felsen zum Kamm hinauf und war verschwunden.
Ob der Junge ihn verstanden hatte? Rooke wusste es nicht. Er machte kehrt und ging zur Hütte zurück.
Mit ein paar Zweigen entfachte er in seinem Kamin ein kleines Feuer, damit der Rauch signalisierte: Ich bin zu Hause und würde gern Besuch bekommen .
Dann legte er sich auf sein Feldbett, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und starrte mit leerem Blick zu den Dachschindeln.
Er schlief nicht direkt, befand sich nur in einer Art Dämmerzustand, als er einen Schatten wahrnahm – Tagaran, die unschlüssig an der Tür stand. Rooke schwang die Beine auf den Boden und blieb auf dem Bettrand sitzen. Tagaran war allein. Noch nie zuvor war sie allein zur Hütte gekommen.
Sie kam herein, setzte sich an Rookes Tisch und strich mit dem Finger über die Maserung des Holzes. Sie wartete darauf, dass er etwas sagte. Und er wartete auf ein Wunder, das ihn von diesem Gewicht befreien würde, das wie ein großer schwerer Umhang auf ihn herabgefallen war.
Rooke stand auf und setzte sich Tagaran gegenüber an den Tisch.
»Warum?«, fragte er auf Englisch. »Warum hat der schwarze Mann den weißen Mann verwundet?«
Zögernd hob sie das Gesicht und sah ihn an.
» Gulara «, sagte sie, nur dieses eine Wort. Wütend.
» Minyin gulara eora? «, fragte Rooke. Warum sind die schwarzen Männer wütend?
Er kannte die Antwort, aber er brauchte die
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