Australien 03 - Tal der Sehnsucht
King zu den Zwingern hinab, um seinen Hunden Auslauf zu geben. Während die übrigen Hunde voller Freude im morgendlichen Sonnenschein wirklich tanzten, blieb, wie er bemerkte, Moss am Ende seiner Kette auf der Seite liegen. Der schwarze Rüde rührte sich nicht. Charles ging in die Knie und legte seine Hand auf die Flanke des alten Hundes. Kalt und steif lag Moss da. In diesem Augenblick wusste Charles King es. Er wusste, dass sein Freund Jack von ihnen gegangen war. Unvermittelt musste er weinen. Er löste die Hundekette, trug Moss hinüber zu einem liegenden Baumstamm, setzte sich und streichelte lange den leblosen Leib.
Charles King starrte unter Tränen auf den roten Boden unter seinen Stiefeln, denn ihm war klar, dass Moss sich aufgemacht hatte, seinen Herrn zu finden. Gemeinsam mit Jack und Kelpie beschritt er nun eine Straße, die nicht von dieser Welt war. Alle waren jetzt wieder vereint, Jack, Kelpie, Bailey und Moss, auf dieser luftigen Straße, auf der es weder Vergangenheit, noch Gegenwart oder Zukunft gab. Behutsam legte Charles den toten Hund auf die kalte Wintererde und richtete sich auf, um eine Schaufel zu holen.
Als Rosie aufwachte, war es Morgen und der Jahrestag von Sams Tod. Sie fuhr mit den Händen über ihre nassen Wangen und erkannte urplötzlich, dass sie im Schlaf geweint hatte. Fast ängstlich streckte sie die Arme unter der Decke hervor, bis ihre Fingerspitzen auf dem Pamphlet zu liegen kamen, das ihr der Hobbyhistoriker geschickt hatte. Noch einmal betrachtete sie das schwarz-weiße Foto von Jack Gleesons Grabstein auf dem Friedhof von Tower Hill. Sie konnte die Inschrift nicht entziffern, aber der Autor des Buches hatte in Druckschrift darunter erklärt: »Errichtet von Mary im Angedenken an ihren geliebten Gemahl John Dennis Gleeson, der am 29. August 1880 im Alter von 38 Jahren aus diesem Leben schied.«
Ein Schauer überlief sie. Jack war so jung gestorben. Eigentlich hätte er als glücklicher alter Mann sterben sollen, umgeben von all seinen Kindern. Und seine Hunde abrichten sollen, bis er nicht mehr laufen konnte. Rosies Gedanken wanderten weiter. Arme Mary. Ihren noch so jungen Mann zu verlieren und vor sich zu sehen, wie sie ihren Sohn ohne Vater großziehen sollte. Rosie merkte, wie die alte Panik in ihr hochstieg, weil Jack Gleesons Tod Emotionen wachrief, die sie so angestrengt zu kontrollieren versucht hatte: ihre Gefühle bezüglich Sams Tod; Jims Verschwinden; der gescheiterten Ehe ihrer Eltern. Auch für sich sah sie niemanden, der die Zukunft mit ihr teilte. Wozu also das Ganze? Tränen stiegen ihr in die Augen. Zornig schwang sie die Beine aus dem Bett und trat dabei versehentlich auf Bones’ Schwanz.
»Aus dem Weg!«, fuhr sie ihn wütend an. Aber er regte sich nicht. In dem hellen Strahl der Morgensonne sah sie in seine starren, leblosen Augen.
»O Gott«, hauchte Rosie. »Lazy Bones?«
Sie bückte sich und streichelte seine Flanke. Er fühlte sich steif unter ihren Fingern an. Sie merkte gar nicht, dass sie einen erstickten Schrei ausstieß.
»O nein. Bitte nicht!« Sie kniete neben dem alten Hund nieder und flüsterte immer und immer wieder seinen Namen. Dann begann sie, das Schlimmste zu fürchten. Sie blickte zu den Kieferpaneelen an der Decke auf und schloss die Augen.
»Jim?«, rief sie. »Jim?«
Aber tief im Herzen wusste Rosie Jones, dass Jim Mahony nicht mehr in ihre Welt gehörte.
Rosie bückte sich und rollte den schon steifen Leichnam des alten Lazy Bones in die Matte, auf der er gestorben war. Als sie ihn anhob, lösten sich faulige Gase aus seinen Gedärmen. Der vertraute Gestank ließ sie den Kopf abwenden.
»So ist es recht, Bones«, sagte sie. »Hinterlass mir was ganz Besonderes, damit ich dich in Erinnerung behalte.«
Sie trug ihn zu der Schubkarre im Stall und legte ihn hinein.
»Bitte sehr, Lazy Bones – der perfekte Fleck für dich. Du kannst einfach liegen bleiben, und ich schiebe dich. Du brauchst in Zukunft wirklich keine Energien mehr zu vergeuden.«
Sie wischte die Tränen aus ihren Augen, legte eine Schaufel neben ihn und rollte ihn durch die Seitentür in den Obstgarten hinaus.
Unter einem Zitronenbaum begann Rosie zu graben. Sie spürte, wie sich die Muskeln in ihren Armen anspannten, und roch die Fruchtbarkeit des feuchten Erdreiches, in dem es von winzigen Lebewesen wimmelte. Das Gesicht angewidert verzogen, durchschnitt sie die Leiber fetter Regenwürmer, die sich auch zweigeteilt weiter zu entwinden versuchten. Hier
Weitere Kostenlose Bücher