Australien 03 - Tal der Sehnsucht
befremdlich an. »Warum fragst du das nicht deine geliebte Tante?«
»Was?« Rosie begriff gar nichts mehr.
»Sie wollte ihn immer für sich selbst haben.«
Rosie versuchte zu begreifen, was ihre Mutter da sagte. Giddy und Gerald? Erst erschien ihr das völlig absurd. So absurd, dass Rosie fast losgelacht hätte. Aber dann blitzten vor ihren Augen immer mehr Erinnerungen an Gerald und Giddy auf. Wie die an letzte Weihnachten, wo Gerald Giddy so liebevoll geküsst und so laut mit ihr gelacht hatte. Er hatte sie zum Bleiben überreden wollen. Er hatte ihre Hand gehalten. Und an jenem Tag war er aus seiner üblichen schweigsamen Muffigkeit aufgetaut und hatte fröhlich und glücklich gewirkt. Und dann war da noch Margarets frostige Reaktion auf ihre Schwester. Seit Rosie denken konnte, war da etwas zwischen ihnen gewesen… eine unausgesprochene Verbitterung.
»Bist du sicher?« Rosie war immer noch bemüht, diese letzte Wendung der Ereignisse zu verdauen.
Margaret schlug leise mit der Stirn gegen die Tischplatte und begann hysterisch zu lachen.
»Ob ich sicher bin? Glaubst du etwa, ich hätte mit einem Schafscherer geschlafen, wenn ich Gerald nicht in flagranti mit Giddy ertappt hätte? Wofür hältst du mich?«
Glaubst du etwa, ich hätte mit einem Schafscherer geschlafen? Die Worte hallten in Rosies Kopf wider. Sie wich langsam zurück, während sich ein Puzzleteilchen zum anderen fügte. Margaret, die vor so vielen Jahren das Liebespaar überrascht und daraufhin Rache genommen hatte. Eine Liebelei mit einem Schafscherer. Einem Schafscherer . Ihrem Vater. Rosie bekam keine Luft mehr. Sie stolperte in den dunklen Hausgang. Immer noch hörte sie ihre Mutter in der Küche schreien, dass ihre Stimme im ganzen Haus widerhallte.
»Bei den Highgrove-Joneses hat sich noch nie jemand scheiden lassen!«, tobte Margaret. »Niemals! Pah! Und jetzt das! Nach all den Jahren brennt Gerald mit meiner Schwester durch!«
Rosie lief auf die Veranda vor dem Haus und konnte gerade noch sehen, wie ihr Vater in dem uralten Mercedes ihres Großvaters losfuhr. Im Schein der Verandalampe erkannte sie, dass er stur und mit versteinerter Miene nach vorn blickte. Er nahm sie überhaupt nicht wahr. Er fuhr einfach davon, bis die Heckleuchten wie schmale rote Augen in der Ferne verschwanden.
»Dad?«, brüllte ihm Rosie hinterher und krümmte sich zusammen, weil ihr alles so unfassbar erschien. Er hatte kein Wort davon gesagt. Er war gegangen, ohne mit ihr zu reden. Panik überkam Rosie, sie fühlte sich unendlich allein und unerwünscht. Sie brachte einfach nicht die Kraft auf, wieder ins Haus zu gehen und ihrer tobenden Mutter gegenüberzutreten, aber Jim konnte sie ebenso wenig ins Gesicht sehen.
»O Gott«, flüsterte sie. »Was soll ich denn nur tun?«
Draußen bei den Pferchen riss Rosie scharf an Oakwoods Zügel, warf ihm dann einen Sattel über und öffnete das Gatter. Noch bevor sie sich richtig aufgeschwungen hatte, trieb sie ihn mit den Hacken in den Galopp und ritt in den Nebel hinaus.
Verschlafen und mit verquollenen Augen trat Jim mit blanken Füßen auf die Pflastersteine im Hof und blieb bibbernd stehen. Er spähte in die dunkle, kalte Nacht.
Oakwood kam im Nebel kurz ins Straucheln und fiel daraufhin in einen langsamen Trott, die Nüstern dicht über dem Boden, um den Weg zu erschnüffeln und um sich schnaubend und behutsam durch die Dunkelheit vorzuarbeiten. Die niedrigen Äste der Bäume zerkratzten Rosies Gesicht und hinterließen rote Striemen auf ihren Wangen, aber sie spürte so gut wie nichts. Die Gedanken rasten so schnell durch ihren Kopf, dass ihre Schläfen pochten und sich ein stechender Schmerz hinter ihrer Stirn breit machte. Immer tiefer ritt sie in die Nacht. Plötzlich fiel der Weg steil ab, und Rosie lehnte sich im Sattel zurück, während Oakwood die Hinterbacken zusammenzog. Halb schlitternd, halb stolpernd rutschte er das Steilufer hinunter. Jeden Schritt bekam Rosies Körper schmerzhaft zu spüren. Sie war nicht sicher, wohin der Weg sie führte, aber das war ihr auch egal. Es war ihr egal, selbst wenn sie tagelang im Gestrüpp umherirren musste, das am Fluss wuchs. Hauptsache sie war weit weg von ihrer durchgeknallten Familie und dem riesigen alten Haupthaus, in dem die düsteren Porträts von Menschen hingen, die plötzlich nicht mehr ihre Verwandten waren.
Unten am Ufer folgte Oakwood durch das Dickicht einem schmalen Tunnel, der eher ein Wallaby-Wechsel war. Immer wieder blieben Rosies
Weitere Kostenlose Bücher