Auszeit für Engel: Roman (German Edition)
meine Gefühle gut in der Gewalt gehabt und wollte keinen Rückschlag hinnehmen müssen. Alles, was ich jetzt noch spürte, war ein gelindes Interesse an dem Fortgang der Ereignisse. Vielleicht hätte ich mich schützend vor Helen stellen sollen, aber ich war mir sicher, dass sie für sich selbst sorgen konnte. Ich vermutete, dass eher Troy derjenige war, der sich vorsehen musste.
Mein Stolz darauf, dass ich mich ganz tapfer schlug, bekam einen kleinen Knacks, als ich meine Mutter in ein angeregtes
Gespräch vertieft sah mit – Shay Delaney, wem sonst? Sie hatte keine Zeit verloren. Er beugte seinen dunkelblonden Kopf zu ihr hinunter, und seine braunen Augen waren so aufmerksam auf sie geheftet, dass ich am liebsten gelacht hätte.
Als wüsste er, dass ich ihn beobachtete, sah er plötzlich auf und warf mir einen Blick zu, der mich im Innersten traf. Mum reckte den Hals, um herauszufinden, wen er erspäht hatte, und als sie mich sah, winkte sie mich zu sich – und ich ging natürlich. Aus Gehorsam? Höflichkeit? Neugier? Wer weiß. Aber plötzlich stand ich neben ihm, und er war auf seine strubbelige, lächelnde, charmante Art sehr der Shay Delaney, den ich kannte.
»Guck mal, wen ich hier habe!« Mum war ganz aufgeregt. »Wir haben gerade über die alten Zeiten gesprochen. Es kommt mir vor wie gestern, dass Shay Delaney in meiner Küche saß und … was hast du noch mal gegessen, Shay?«
»Bakewell Tarts!«, sagten sie beide wie aus einem Mund.
»Du warst der Einzige, der sie gegessen hat – meine Kinder haben sie nicht angerührt.«
»Ich weiß nicht, warum nicht«, sagte Shay mit einem Funkeln in den Augen. »Sie waren köstlich.«
Aber das hätte er selbst dann gesagt, wenn er unmittelbar darauf an Lebensmittelvergiftung gestorben wäre. So war er schon immer: voller Komplimente und bemüht, es jedem recht zu machen. Außer mir. Mein Blick verweilte auf den blonden Stoppeln an seinem Kinn, und ich schluckte einen Seufzer hinunter.
»Und du bist verheiratet, habe ich gehört«, forschte Mum.
»Richtig, seit sechs Jahren, mit Donna Higgins.«
»Sind das die Higgins von Rockwell Park?«
»Nein, die aus der York Road.«
»Malachy Higgins oder Bernard Higgins?«
»Weder noch, obwohl einer ihrer Onkel Bernard heißt …«
Es folgte eine kurze Erörterung darüber, aus welcher Familie Higgins Shays Frau stammte, dann wechselte Mum das Thema. »Margaret hat sich von ihrem Mann getrennt, aber so etwas kann passieren. Heutzutage zählt das gar nicht, wenn man nicht mehr als einmal verheiratet war. Wir müssen mit der Zeit
gehen, habe ich Recht? Was hätte es für einen Sinn, wenn man sich scheiden lassen kann und man tut es nicht? Nimm’s oder es wird dir genommen, so sagt man doch.«
Mit jedem Satz wurde meine Überraschung größer, bis sie sich zu einem regelrechten Schock auswuchs. Meine Mutter war eine von denen, die weinten, als die Scheidung in Irland gesetzlich verankert wurde, und die prophezeiten, dass dies das Ende der zivilisierten Gesellschaft sei. Und wie taktvoll, darüber mit Shay zu sprechen, in Anbetracht seiner Geschichte.
»Und deine Frau?«, fragte sie Shay. »Ist sie bei dir, oder wieder … ach so, in Irland. Ich verstehe. Und du bist wegen der Arbeit viel hier. Es muss ganz schön schwierig sein, wenn man sich nur selten sieht. Na, wer weiß, vielleicht bist du einer von diesen neumodischen Typen, die mehr als einmal heiraten, wenn du nicht gut aufpasst!«
Ich fand, ich war zu alt, um von meiner Mutter in Verlegenheit gebracht zu werden. Aber was sie sagte, war ziemlich erstaunlich.
»Es kommt mir wie gestern vor, dass ihr Teenager wart«, sagte Mum wehmütig. »Wie schnell die Zeit vergeht!«
Schweigend sahen Shay und ich uns an, und plötzlich war ich in der Vergangenheit und erinnerte mich an einen bestimmten Nachmittag. Als er mich auf den sonnenbefleckten Teppich in seinem Zimmer legte. Die Wärme, das Licht, das Gefühl seiner nackten Haut auf meiner, meine Lust war fast unerträglich.
Auch er erinnerte sich an jenen Tag, oder an einen anderen, ähnlichen Tag, denn die Atmosphäre zwischen uns verdichtete sich fast zusehends.
Als Teenager hatte ich meine Liebesgeschichten vor meinen Eltern geheim gehalten. Natürlich hatten sie ihre Mutmaßungen, als ich mit siebzehn anfing, mit Garv zu gehen. Aber ich sprach nie darüber, auch nicht, als wir wieder Schluss machten. Und dass ich mit Shay ging, wussten sie auch nicht mit Gewissheit. Eigentlich ging ich auch nicht
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