Auszeit für Engel: Roman (German Edition)
entfernte, und ich versuchte, schneller zu gehen, aber immer mehr Leute kamen mir in die Quere, stolperten über meine Beine und blockierten meinen Weg – und dann war er verschwunden.
Danach wachte ich jedesmal heiß vor Erregung und matt bei der Erinnerung an die Liebe auf und war Garv gegenüber kurz angebunden und gereizt. Den ganzen Tag nach einem solchen Traum hingen mir die Gefühle nach, wie ein Kater, und erst, wenn sie abgeklungen waren, begann ich mir Sorgen zu machen. Die meiste Zeit dachte ich überhaupt nicht an Shay, aber bedeuteten diese Träume etwa, dass ich ihn immer noch liebte? Und dass ich Garv nicht liebte?
Auf eher ungewöhnlichem Weg, nämlich durch einen Dokumentarfilm, den ich eines langweiligen Sonntags vor vielleicht acht oder neun Jahren sah, fand ich Beruhigung. Es ging darin um die Beziehung der Erde zur Sonne. Der Sprecher sagte, dass auch im tiefsten Winter, wenn unser Teil der Erde von
der Sonne abgekehrt ist, die Anziehung der Sonne so stark ist, dass wir sie immer noch spüren. Und hin und wieder kann sich die kalte Seite der Erde durchsetzen, was erklärt, warum es manchmal mitten im Februar so unglaublich warme Tage gibt.
Vielleicht hatte ich es nicht richtig verstanden, denn wenn ich genau darüber nachdachte, ergab das Ganze keinen Sinn. Als Beruhigung jedoch funktionierte es gut: Ich fühlte mich befreit, als ich begriff, dass ich Garv sehr wohl liebte, es aber trotzdem Tage gab, an denen ich mich zu Shay hingezogen fühlte. Der Traum hatte keine tiefere Bedeutung.
Doch diesmal war der Traum anders. Er fing damit an, dass ich hinter Shay herlief, aber dann war es plötzlich Garv. Ich versuchte genauso besessen, Garv einzuholen, wie früher Shay. Es war unglaublich wichtig, dass ich ihn einholte, ich war voller süßer, schmerzlicher Begierde und erlebte das schwindelnde, das erhebende Gefühl der ersten Liebe. Ich wusste noch, wie es war, ich erinnerte mich mit solcher Deutlichkeit. Aber er wurde mit der Menge fortgerissen, und ich konnte nicht schnell genug laufen, und dann war er verschwunden.
Und als ich aufwachte, hatte ich Tränen in den Augen, Tränen über den Verlust von Jahren.
Emily war schon in der sonnigen Küche, sie sprudelte über vor Energie. »Ich bin seit sechs Uhr wach«, verkündete sie. »Seitdem warte ich darauf, dass das Telefon da klingelt.«
Ja, natürlich, sie wartete auf eine Nachricht, nach ihrer Präsentation. Der Traum hing mir noch so stark nach, dass ich Schwierigkeiten hatte, mich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Ich kam mir wie ein schlecht eingestelltes Radio vor, das zwei Frequenzen auf einmal empfing, eine im Vordergrund und eine eher gespenstische, die im Hintergrund mal deutlicher, mal schwächer vernehmbar war.
»Aber es ist erst neun«, schien mir die einzige sinnvolle Antwort. »Es ist ganz unwahrscheinlich, dass schon jemand im Büro ist.«
»Faule Bande, FAULE BANDE! Außerdem hat Mort Davids Privatnummer, er hätte gestern Abend oder heute früh bei ihm
anrufen können, wenn er so scharf drauf war. Jede Sekunde, die vergeht, ohne dass wir etwas hören, ist ein weiterer Nagel zu meinem Sarg.«
»Du dramatisierst das alles zu sehr. Gibt es Kaffee?«
Zwei Becher mit starkem Kaffee bewirkten, dass die Wolken, die meine Stimmung verdüstert hatten, weggeblasen wurden, und das Leben nahm eine klarere Form an.
»Hier sieht es gar nicht so schlimm aus, wenn man bedenkt, dass gestern abend dreißig Leute im Haus waren und sich betrunken haben. Man merkt kaum etwas.«
»Ja«, sagte Emily. »Abgesehen von dem Souvenir auf der Couch.«
Oh, Mist! Ein Brandfleck von einer Zigarette? Oder war jemandem übel geworden? War überhaupt einer so betrunken gewesen? Könnte auch jemand mit Bulimie gewesen sein.
»Ethan«, sagte Emily. »Ich weiß nicht, wieso wir ihn gestern Abend übersehen haben. Ich habe versucht, ihn zu wecken, aber er hat geknurrt wie ein kleiner Hund. Blödmann.«
Und da lag er, zusammengerollt auf der Couch, sein Taschenmesser mit pummeligen Händen umklammert, und die Stoppeln auf seinem Schädel gaben ihm ein stacheliges Aussehen. Im Schlaf sah sein ziegenbärtiges, gepierctes Rockergesicht ganz zahm aus.
»Der Junge muss nach Hause, er muss sich den Kopf rasieren. Gib ihm mal einen Tritt«, sagte Emily.
»Könnten wir ihn nicht einfach wachrütteln?«
»Treten macht mehr Spaß.«
»Meinetwegen.« Ich gab ihm einen sanften Tritt gegen das Schienbein, aber er bewegte sich nur ein bisschen und
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