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Auszeit für Engel: Roman (German Edition)

Auszeit für Engel: Roman (German Edition)

Titel: Auszeit für Engel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marian Keyes
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murmelte, dass er meinen verdammten Kopf an die Tischkante schlagen würde.
    Ich sah Emily fragend an. »Vielleicht sollten wir ihn eine Weile in Ruhe lassen.« Wir waren uns schnell einig. »Ein junger Mann muss ordentlich ausschlafen. Ist noch Kaffee da?« Wir zogen uns in die Küche zurück.
    Auf dem Kühlschrank stand eine offene Flasche Wein, die wir am Abend beim Aufräumen nicht bemerkt hatten. Dann sah ich, dass an dem Korkenzieher noch ein Korken steckte.
Damit könnte ich die Flasche erst einmal zukorken. »Gib mir mal den Sesam«, bat ich Emily.
    Emily sah mich konsterniert an und reichte mir die Flasche mit dem Sesamöl. Ich warf einen Blick darauf und begriff sofort, was passiert war, dann merkte ich, dass Emily mich auf meinen geistigen Zustand hin überprüfen wollte. »Wozu brauchst du Sesamöl? Möchtest du dein Frühstücksmüsli darin braten?«
    »Nein, ich wollte sagen, kannst du mir mal den Korkenzieher geben.«
    »Aber das hast du nicht gesagt. Du hast Sesam gesagt. Es sei denn, ich werde langsam verrückt. Das fehlte gerade noch.«
    Ich überlegte, ob ich lügen sollte – ihr weiszumachen, dass sie im Begriff war, wahnsinnig zu werden, dürfte nicht schwierig sein –, fand das aber zu unfreundlich. »Es ist ein Wort, das Garv und ich immer benutzt haben«, erklärte ich verlegen. »Wenn wir eine Flasche Wein aufmachen wollten, haben wir gesagt: ›Sesam, öffne dich.‹ Deswegen haben wir den Korkenzieher Sesam getauft. Entschuldige, ich hatte das vergessen.«
    »Tust du mir deswegen abends immer Zahnpasta auf meine Zahnbürste? Hast du das immer für Garv gemacht?«
    »Wa-as?«, stammelte ich.
    »Seit du hier angekommen bist«, erklärte sie geduldig, »jeden Abend, wenn du schon im Bett warst und ich nach dir ins Bad gegangen bin, lag meine Zahnbürste da, mit Zahnpasta drauf. Wenn du das nicht warst, wer sonst?«
    Ich musste gestehen. »Das war ich. Aber ich wusste nicht, dass ich das mache. Ich kann es eigentlich selbst nicht glauben.«
    »Und das hast du immer für Garv gemacht?«
    »Ja, je nachdem, wer zuerst ins Bad ging, legte die Zahnbürste für den anderen bereit.«
    »Das ist das Schönste, was ich je gehört habe«, sagte Emily mit einem Leuchten in den Augen, das sofort erlosch, als sie mein Gesicht sah.
    Die Trauer, die ich beim Aufwachen empfunden hatte, war wieder da. In ihr lag das ganze Gewicht der verlorenen Sprache und all der Rituale, die keinem anderen etwas bedeuteten,
die aber Teil dessen war, was Garv und mich miteinander verbunden hatte. Es gab jede Menge davon, zum Beispiel: Wenn er mir mein Essen bereitete und es auf den Tisch stellte, musste ich ins Zimmer eilen und sagen: »Ich bin sofort gekommen, als ich davon hörte!«
    Zu erklären, warum das lustig und tröstlich war, wäre genauso schwierig, wie einem Blinden eine Farbe erklären zu wollen. Und jetzt war das alles verloren, unsere ganze Art, das Leben zu gestalten.
    Offenbar vermittelte sich mein Kummer sehr deutlich, denn Emily sagte: »Du kannst es ruhig aussprechen.«
    »Was kann ich ruhig aussprechen?«
    »Dass du ihn vermisst. Ich vermisse ihn auch.«
    »Also gut«, sagte ich. »Ich vermisse ihn.«
    Aber ich vermisste nicht nur ihn. Ich vermisste auch mich selbst. Ich vermisste es, nicht so sein zu können, wie ich sonst war, wenn ich nicht vorgeben musste, dass ich noch etwas mehr war als nur ich. Selbst bei Emily war ich nicht ganz ich selbst, so wie früher mit Garv. Und das zeigte sich in lauter Kleinigkeiten, zum Beispiel, wenn der Fernseher zu laut war. Zu Hause brüllte ich Garv einfach an, und er stellte ihn leise, aber bei Emily musste ich mich zurückhalten, so dass sich mir ein Loch in die Magenschleimhaut brannte.
    »Ich hatte einen Traum«, begann ich. Ich klang wie Martin Luther King.
    »Erzähl ihn mir«, sagte Emily und fügte dann hinzu: »Marty.«
    »Die Handlung kennst du schon.«
    »Ist es der Shay-Delaney-Traum?«
    »Und er fängt damit an, dass ich hinter Shay herlaufe, aber diesmal ist er zu Garv geworden.« Ich beschrieb das hektische Rennen, den verzweifelten Drang, ihn einzuholen, das Entsetzen, als er sich immer weiter entfernte, das Gefühl, beraubt zu sein, als mir klar wurde, dass er verschwunden war.
    »Jetzt bist du dran«, sagte ich, »erkläre mir das mal.«
    Emily kann so etwas sehr gut.
    »Wir verarbeiten in unseren Träumen Dinge, die wir nicht im wachen Zustand verarbeiten können«, sagte sie. »Du warst
neun Jahre verheiratet, natürlich fühlst du dich mies.

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