Auszeit
würde. So mag es allgemein als deplatziert gelten, wenn jemand seine Nachbarin anruft, um ihr mitzuteilen, dass ihr Ehemann bei Rotlicht über eine Kreuzung gefahren ist (und wohl auch, wenn neben ihm eine hübsche Blondine gesessen hat …).
Zweitens: Ist es angebracht oder nötig? So mag man vielleicht |185| feststellen, dass der Arbeitskollege völlig übernächtigt erscheint. Doch muss man ihn mit einem: »Oh Gott, siehst du aber heute schlecht aus!« konfrontieren? Manchmal ist es angebrachter, die Höflichkeit über die schonungslose Wahrheit siegen zu lassen. Warum soll man bei einer Essenseinladung die Gastgeberin, die sich viel Mühe gemacht hat, brüskieren, indem man auf ihre Frage, wie es denn schmecke, »ehrlich« antwortet: »Miserabel.«? – Es sei denn, man schafft das mit viel Humor, bei einem Menschen, der ihn auch akzeptieren kann, doch das gehört schon zum nächsten Schritt:
Drittens: Wie sage ich die Wahrheit, sodass sie angenommen werden kann? Oft ist dies die schwierigste Herausforderung: das Geschehene so mitzuteilen, dass es einerseits nicht verletzt, andererseits aber auch ohne es zu beschönigen oder zu verharmlosen. Hier gilt es, wie Max Frisch formulierte, »dem anderen die Wahrheit nicht wie ein nasses Handtuch um die Ohren zu hauen, sondern wie einen Mantel hinzuhalten, in den er hineinschlüpfen kann«. – Verfehlt, weil meist verletzend, ist Zynismus: Wer beim Ausspruch einer Kündigung glaubt, schonungsvoll zu sein, indem er sagt: »Wir können uns zwar nicht vorstellen, ohne Sie auszukommen, dennoch wollen wir es ab dem nächsten Monat mal versuchen«, ist nicht einmal witzig, sondern nur gemein. – Anders bei Humor, der aus dem Herzen kommt, und beim anderen ankommt. So bekam meine Mutter in den ersten Ehejahren, als ihre Kochkünste sich noch eher in der Experimentierphase bewegten, von einem guten holländischen Freund der Familie auf ihre Frage, wie denn das Essen schmecke, die offene Antwort: »Weißt du, Barbara, so mancher niederländische Kartonfabrikant wäre froh, wenn seine Pappe so lecker schmecken würde wie deine Pfannkuchen.« Nach kurzer Betroffenheit erntete er auch von der Köchin schallendes Gelächter (hätte aber auch schiefgehen können). – Spaß beiseite: Je gravierender die Nachricht, |186| umso mehr Behutsamkeit und Mitgefühl sind angesagt. Mit einem anderen Bild: Empathie ist gewissermaßen das Nest, in das man die Wahrheit wie ein rohes Ei hineinlegen muss. Wenn man es dem anderen einfach vor die Füße wirft, dann zerplatzt es – und wird, je länger er darüber nachdenkt, anfangen zu stinken.
Viertens: Kann ich dem anderen helfen, mit der Wahrheit fertig zu werden? Das betrifft schlimme Nachrichten, die jemanden wie einen Schlag treffen können, vor allem bei Krankheitsdiagnosen und Todesfällen. Hier ist es Gold wert, wenn man weiß, wie man dem anderen beistehen und helfen kann.
Mit der Wahrheit ist es in der Tat oft keine leichte Sache. Der ehrliche und behutsame Umgang mit ihr gehört zu den entscheidenden Fähigkeiten sozialer und emotionaler Kompetenz.
Fragen zum Nachdenken
Bin ich in der Lage, wenn es nötig ist, die Wahrheit klar, aber rücksichtsvoll zu äußern?
Wann neige ich dazu, lieber nichts zu sagen oder die Dinge zu beschönigen?
Welche Wahrheiten möchte ich lieber nicht hören oder wissen?
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|187| Talente
Carpe diem , nutze den Tag – und nutze deine Talente! Talente zu entdecken, sie zu fördern und optimal zu nutzen, sind aktuelle und wichtige Themen. In den USA wie bei uns sind sogenannte Talent-Scouts auf der Suche nach Begabungen, Zeitungen machen große Kampagnen mit Schlagzeilen à la: »Entdecker gesucht«, und auch in der Bildungspolitik rangieren Begabungen und Begabungsförderung an erster Stelle. Auch in der Bibel spricht Jesus zu seinen Jüngern über Talente:
Es ist wie mit einem Mann, der auf Reisen ging: Er rief seine Diener und vertraute ihnen sein Vermögen an. Dem einen gab er fünf Talente Silbergeld, einem anderen zwei, wieder einem anderen eines, jedem nach seinen Fähigkeiten . Dann reiste er ab. Sofort begann der Diener, der fünf Talente erhalten hatte, mit ihnen zu wirtschaften, und er gewann noch fünf dazu. Ebenso gewann der, der zwei erhalten hatte, noch zwei dazu. Der aber, der das eine Talent erhalten hatte, ging und grub ein Loch in die Erde und versteckte das Geld seines Herrn. Nach langer Zeit kehrte der Herr zurück, um von den Dienern Rechenschaft zu verlangen.
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