Autobiografie einer Pflaume - Roman
wir drauf, wir haben Rosy, und Rosy kümmert sich besser um uns als der liebe Gott, der sich hinter den Wolken versteckt und nie da ist, wenn man ihn braucht.»
«Wer hat dir gesagt, dass er nie da ist, wenn man ihn braucht?»
«Mama, als sie nicht mehr in die Fabrik gegangen ist, und Simon, als er einmal von dem Unfall gesprochen hat, den die Eltern von Boris und Antoine hatten.»
«Unterhältst du dich auch mit Simon?»
«Er weiß immer viele Sachen über die anderen, aber über sich sagt er nie was. Warum ist er hier, Madame Colette?»
«Das kann ich dir nicht sagen, das ist ein Geheimnis.»
«So eines wie das der Bärtigen?»
«Das der Bärtigen?»
«Ja, die Bärtigen haben alle ein Geheimnis, aber ich weiß nicht, was es ist, und ich wüsste es so gerne.»
Und da lacht Madame Colette, und ich bin sauer, weil ich es nicht mag, wenn man sich über mich lustig macht.
«Schau nicht so böse, Pflaume. Ich lache nicht über dich, aber du musst wissen, dass man von den Bärtigen sagt, sie hätten etwas zu verbergen und hätten sich deshalb einen Bart wachsen lassen, das ist alles. Es gibt kein Geheimnis.»
Und ich schaue Madame Colette an und denke mir, dass sie lauter Blödsinn redet, denn wir Kinder, wir wissen, dass die Bärtigen ein Geheimnis haben, aber Madame Colette, die hat keine Ahnung, obwohl sie erwachsen ist und die Erwachsenen sich einbilden, sie wüssten immer alles.
Als ich noch bei Mama zu Hause gewohnt habe, habe ich das ganze Jahr auf den Weihnachtsmann gewartet.
Ich dachte mir:«Für den Fall, dass er wiederkommen will, weil mein Wunschzettel so lang war», und habe meine Hausschuhe ganz nah an den Kamin gestellt, aber am nächsten Morgen waren sie immer noch leer, genauso leer wie mein Herz.
«Ich habe schon hundertmal gesagt, dass der Weihnachtsmann nicht aus Versehen Weihnachtsmann heißt», hat Mama geschimpft,«und räum deine Hausschuhe auf, es gibt hier kein Dienstmädchen außer mir.»
Ich habe auch nie verstanden, wie er es fertig bringt, mit seinem Übergewicht und seinem weiten roten Kapuzenanorak und den ganzen Geschenken durch den Schornstein zu kommen, ohne stecken zu bleiben oder sich zu verbrennen an dem Kaminfeuer, das weniger kostet als die Heizung, und warum er nicht lieber an der Tür klingelt, im Sommer und in T-Shirt und Turnschuhen, was viel bequemer für ihn wäre, und außerdem hätte er in seiner Kiepe mehr Platz für die Geschenke.
Und er kommt nachts, wenn ich schlafe, und deshalb kann ich ihm nie ins Gesicht sagen, dass seine Geschenke nie die
sind, die auf meinem Wunschzettel stehen, sondern dass er sie mit den Orangen und den Süßigkeiten und den Zinnsoldaten verwechselt haben muss, die einem anderen Kind gehören, weil ich unter anderem bloß ein Rennauto haben wollte und einen Riesenteddy und eine Werkstatt wie die von Grégory. Man sollte meinen, dass er genauso schlecht hört wie Mama, wenn sie fernsieht und ich sie etwas frage.
Einmal habe ich mich hinter dem Sofa versteckt, weil ich ihm die Meinung sagen wollte, und ich habe versucht, nicht einzuschlafen, aber der Weihnachtsmann hat mir wahrscheinlich ein Zauberpulver in die Augen gestreut, denn ich bin eingeschlafen, und Mama hat mich geweckt und hat gesagt:«Wenn der Weihnachtsmann dich ein einziges Mal sieht, kommt er nie wieder», und deshalb habe ich es nicht wieder versucht und war trotzdem ganz zufrieden mit meinen Zinnsoldaten.
In Fontaines sind Weihnachten alle Kinder zusammen und der Lehrer und die Psychologin und die Heimleiterin und alle Heimwehstreuer und auch die Großen aus den Appartements und Raymond und die Tante von Camille und die Eltern, die nicht im Gefängnis oder im Himmel sind, und das sind ganz schön viele Leute.
Nur Eierkopf ist nicht da, weil er Grippe hat, aber ich glaube, dass er überhaupt nicht krank ist, weil ich ihn nicht husten gehört habe.
Eierkopf ist ein Hosenscheißer, der sich sogar vor dem Weihnachtsmann fürchtet.
Am Weihnachtstag machen alle Kinder eine Aufführung. Wir verkleiden uns und müssen Sachen auswendig lernen wie in der Schule. Simon hat mir gesagt, dass wir Glück haben, dass Gérard sich um die Musik kümmert, denn am Sonntag war er bei Madame Papineau zu Hause, und da gab es nur Mozart zu hören.
«Warum warst du am Sonntag bei Madame Papineau, und wer ist Mozart? Ist das ein Freund von der Heimleiterin?»
Und er hat geantwortet:«Pflaume, du bist ein echter Nervtöter mit deiner Fragerei.»
Auswendig lernen ist nichts
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