Autobiografie einer Pflaume - Roman
behalten und hat sie dann freigelassen und hat gesagt, sie soll sich in der näheren Umgebung nicht wieder blicken lassen.»
«Mama ist nie wegen so was ins Gefängnis gekommen. Und sie hat den Messieurs nur Gutes getan, das hat man an ihrem Gesicht sehen können.»
«Kann schon sein», sagt Victor.«Trotzdem war deine Mama eine Frau ‹mit schlechtem Lebenswandel›.»
«O ja, das hat sie selber oft gesagt, wenn es ihr schlecht ging.»
«Meine Mama», sage ich,«hat das nie gesagt, aber ihr Leben war nicht schön mit dem kaputten Bein und den vielen Bierchen, und der Fernseher war ihr einziger Freund, und die vielen Flecken auf ihren Kleidern, und dauernd ist ihr die Hand ausgerutscht wegen nichts und wieder nichts, und hinterher konnte man alle fünf Finger auf meiner Backe ablesen, aber ihr Kartoffelpüree war supercool, und manchmal hatten wir viel Spaß, wenn wir miteinander ferngesehen haben.»
«Hmm», sagt Raymond mit Strohhut, Gärtnerschürze und Rosenschere in der Hand.«Ihr wollt doch nicht etwa den ganzen Nachmittag im Haus hocken, während draußen die Sonne scheint! Wie wäre es mit einer Spazierfahrt?»
Und wir sagen:«Ja», weil wir begreifen, dass es ihm Freude macht, uns um sich zu haben.
Wir gehen über die Felder, und die Erde bleibt an unseren Schuhen kleben, und wir landen auf einem Weg, den ich gut kenne.
Ich sehe, wie Raymond blass wird, und weiß, dass es keine Absicht war.
Für mich ist es ein komisches Gefühl, mein Zuhause wiederzusehen.
Gras und Unkraut sind gewachsen, und das Küchenfenster ist zerbrochen. Vielleicht hat der Sohn vom Nachbarn ein Ei geworfen, oder der Wind hat zu stark geklopft, weil ihm niemand geantwortet hat.
Ich will reingehen und Camille mein Zimmer zeigen, aber Raymond nimmt mich sanft am Arm:«Das geht nicht, das ist nicht erlaubt», und er zeigt mir die Versiegelung aus Papier und das dicke Vorhängeschloss.
«Ist es auch nicht erlaubt, die Falltreppe hinter dem Haus zu benutzen?»
«Was für eine Falltreppe, mein Junge?»
«Kommt, ich zeige es euch. Da bin ich reingegangen, wenn Mama mich Eingemachtes holen geschickt hat.»
«Okay, aber nicht lange», sagt Raymond.
Und wir gehen hinter das Haus, wo das Gras uns bis zu den Knien reicht, und ich hebe die Klappe der Falltreppe hoch, und wir steigen ins Dunkel, und Victor ist ganz aufgeregt.
«Das ist ja wie in Indiana Jones », sagt er.
Camille hält meine Hand fest, und Raymond sagt:«Vorsicht Kinder, fallt nicht hin», als wären wir wild darauf, uns die Beine zu brechen.
Es riecht nicht gut, nach verfaultem Obst und Gemüse.
Wir steigen die Treppe zur Küche hoch. In der Küche liegen Glassplitter auf dem Boden, unter der Decke sind Spinnweben, und überall ist es staubig, und den Staub sieht man in einem Sonnenstrahl. Camille und Victor erschrecken vor einer
kleinen toten Maus. Wir steigen zu meinem Zimmer hinauf, und da riecht es komisch, und ich öffne die Fensterläden zum Hof und sehe den Sohn vom Nachbarn, der zu mir hochschaut.
«Wer ist der Junge, der auf dem Schwein sitzt?», fragt Camille.
«Das ist ein Wilder, der nur vor seinem Vater und vor den Schweinen keine Furcht hat.»
Ich winke ihm zu, und zu meiner großen Überraschung winkt er zurück.
«Und wie heißt er?», fragt Camille.
«Nathan. Einmal war ich traurig, und da hat Mama zu mir gesagt, ich hätte viel Glück gehabt. ‹Schau dir den kleinen Rotschopf an, der immer dreckig ist und stinkt und die Kleider seines Vaters trägt und sie zubinden muss, damit er nicht über die Hose und das T-Shirt stolpert, und gewaschen werden die Sachen am Wasserhahn. Das Wort Seife haben die noch nie gehört. Sein Pullover ist mottenzerfressen und steif vor Schmutz, und das ganze Jahr geht er barfuß. Du bist wenigstens halbwegs normal, und das verdankst du mir. Du bist sauber gewaschen, du trägst Hemden, die dir passen, du gehst zur Schule, und selbst wenn du da nichts lernst, bist du wenigstens beschäftigt. Du bekommst zu essen, du hast ein Bett und ein Dach über dem Kopf, während andere Kinder unter den Brücken schlafen müssen, wenn sie überhaupt schlafen und wenn es überhaupt Brücken gibt.›»
«Ich hatte gesagt: Nicht lange», schimpft Raymond.
Und wir gehen. Ich drehe mich trotzdem noch einmal um und sehe, dass Nathan mir zulächelt, und das gibt mir einen Stich ins Herz.
Ich habe ihn noch nie etwas anderes als eines der Schweine anlächeln gesehen.
Raymond schickt uns unter die Dusche, weil unsere Gesichter und
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