Avalon 04 - Die Hüterin von Avalon
Zeiten hoffen?
Die Erntezeit war die hoffnungsvollste Zeit im Jahr. In alten Tagen hatte der Krieg ein Ende gehabt, sobald die Ernte eingebracht wurde. Doch jetzt mussten sie sich um Kriegskämpfe keine Gedanken mehr machen – außer wenn es gelegentlich notwendig wurde, eine ausgerissene Kuh einzufangen, die sich irgendwie auf die andere Seite einer Stammesgrenze verirrt hatte. Und das war vielleicht die einzige der vielen wohltätigen Versprechungen Roms, die sie tatsächlich begrüßten. Als das Korn reif und golden auf den Feldern stand, kam jeder, ob klein oder groß, herbei, um bei der Ernte mitzuhelfen.
Boudicca bückte sich, las ein Kornbüschel nach dem anderen vom Boden, häufte sich ein dickes Bündel in die Armbeuge. Vor ihr bewegten sich die Schnitter im Rhythmus zur Erntetrommel, griffen, schnitten und warfen die Kornhalme auf immer größer werdende Haufen. Sie hockte sich nieder, um sich noch mehr aufzuladen, beschloss dann aber, dass sie genug beisammenhatte, um eine Garbe zu binden, schnürte einen verdrillten Strohhalm um das Bündel in ihrem Arm und fing wieder von vorn an.
Der Großteil des Icener-Landes war Weide- oder Schwemmland, und so waren die wenigen Landstriche, auf denen das Korn gut gedieh, umso wertvoller. Das beste Korn wuchs in den höher gelegenen, sanft welligen Hügeln um Ramshill. Boudicca war seit ihrem Besuch bei Cartimandua hier. Der König hatte ihr die beiden Mädchen gebracht, damit auch sie bei der Ernte halfen. Nach der Ernte würden sie dann alle zusammen wieder zurück nach Dunford gehen.
Eigentlich freute sie sich jedes Jahr auf diese Zeit mit all den Festen, doch just in diesem Augenblick wünschte sie sich, dass sie schon vorbei wäre. Über ihr strahlte der Himmel. Der Schweiß rann ihr über den Rücken, klebte den Leinenstoff der alten Tunika auf ihre Haut und ließ sie jucken, weil an allen Ecken und Enden stachelige Spreu durchgekommen war. Lange Ärmel schützten ihre Arme gegen die Sonne, doch bis zum Abend würde ihr Gesicht rot sein und brennen, auch wenn sie es vor der Arbeit mit Öl eingerieben hatte und einen breiten Strohhut trug.
Aber sie konnte jetzt unmöglich aufhören. Über den sumpfigen Wassern türmten sich dicke Wolken auf, und sollte es regnen, wäre der Großteil des Weizens verloren. Die Familien von den nahen Gehöften um den Pferdeschrein halfen alle zusammen; sie brachten die Ernte gemeinsam ein und ernteten sämtliche Felder der Reihe nach ab, sobald die Frucht reif war. An diesem Tag arbeiteten sie alle zusammen auf den Feldern von Palos und Chandra. Zu Beginn des Sommers war Palos sehr krank gewesen, schien aber mittlerweile wieder auf dem Damm, hatte braun gebrannte Haut und von der Sonne gebleichtes Haar.
Neben ihm stand Prasutagos, schnitt das Korn und warf die Halme auf einen neuen Haufen. Seine Tunika hatte er abgestreift. Boudicca hielt kurz inne, genoss den Anblick der kräftigen Muskeln, die sich anspannten, wenn er sich erneut nach den Kornhalmen reckte, die geschnittenen Stängel aufhob und eine weitere Garbe zusammenband.
»Hier ist Wasser, Mutter«, sagte Rigana. Boudicca streckte sich, um den schmerzenden Rücken zu dehnen, und setzte dann den vollen Wasserbeutel an die Lippen. Das schmeckte besser als jeder römische Wein. Wenigstens waren sie auf dem letzten Feld zugange. Vom Gehöft her roch es schon lecker nach gekochtem Essen – bald würden sie festlich schmausen.
Sehr bald schon, dachte sie sodann, denn die Schnitter näherten sich dem Ende des Felds. Und das weckte bei allen vorfreudige Erwartung. Mit blitzenden Sicheln arbeiteten die Männer sich weiter und weiter vor, dem letzten Schnitt entgegen, hielten inne, machten Prasutagos Platz, der gerade das letzte noch übrige Kornbüschel ergriff. Als die Geräusche um ihn herum verstummten, merkte Prasutagos, dass nur noch er die Sichel schwang, und blickte sich mit einem verdutzten Lachen um.
»Die Alte Frau!« – »Die Kornmutter!« – »Pass bloß auf, jetzt rächt sie sich!«, tönte es ringsum.
»Palos, das ist dein Feld – hier, die Ehre zur feierlichen Einholung der letzten Garbe gebührt dir«, sagte der König und streckte ihm die Sichel hin.
»Nein, mein König«, lachte Palos. »Du bist gefragt. Da will ich nicht im Weg stehen!« Und seine goldblonde Frau nahm ihn am Arm, um seine Worte zu unterstreichen.
Prasutagos stieß einen pathetischen Seufzer aus. »Na gut, du warst ja krank, dann übernehme ich das eben …« Er stellte sich
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