Avalon 04 - Die Hüterin von Avalon
vernehmbare Geräusch. »Hört mir zu. Heute Morgen hatte ich einen Wachtraum …«, sagte sie. Lhiannon richtete sich auf und bündelte ihre Aufmerksamkeit so, dass sie das, was sie nun hörte, im Gedächtnis behielt, so wie sie es erlernt hatte.
»Ich sah dich, Lhiannon – als alte Frau. Du warst älter, als ich je sein werde.«
»Ah, jetzt weiß ich – Lhiannon war das!«, rief Coventa dazwischen und errötete, als sie Lhiannons missbilligenden Blick bemerkte. »Ich weiß, meine Lehrerin, ich sollte das nicht tun. Aber ich konnte wirklich nicht anders. Ich war im Halbschlaf, saß direkt neben ihr, und so sah ich …«
Lhiannon seufzte. Wenn das Mädchen die Gabe hatte, die Visionen einer Seherin auf dem Orakelstuhl aufzugreifen, dann war es auch nicht verwunderlich, wenn sie jetzt Mearans Visionen teilte. Zu ihrem eigenen Wohl sollte man Coventa andere Aufgaben übertragen. Doch wenn dieser Vorschlag von Lhiannon kam, würde Helve ihn zweifelsohne ablehnen.
»Schon gut, Mädchen«, murmelte sie. »Herrin, was hast du sonst noch gesehen?«
»Du warst in einem Haus, umgeben von Wald, an einem Ort, an dem ich nie gewesen bin. Du trugst den Zierkranz der Hohepriesterin.« Sie hatte die Augen noch immer zu und lächelte.
Lhiannon versteifte sich vor Schreck und warf einen Blick auf die beiden Mädchen, um zu sehen, ob sie richtig zugehört hatten.
»Mearan«, flüsterte sie. »Was meinst du damit? Soll ich als Hohepriesterin deine Nachfolgerin sein?« Eine Hohepriesterin war befugt, ihre Nachfolgerin zu erwählen, obgleich die Druiden darüber abstimmen konnten, ob sie die Wahl annahmen. Dabei war Helve sich doch so sicher gewesen …
»Hohepriesterin.« Die Stimme der kranken Frau klang nun fester. »Ja … . Das wirst du sein. Aber nicht jetzt, meine Tochter. Und nicht hier …« Sie hustete. »Zwischen der Zeit jetzt und der Zeit dann liegt eine Leere. Halt, da ist noch etwas … Feuer … Blut …« Unruhig drehte sie den Kopf auf dem Kissen hin und her. »Ich kann es nicht richtig sehen …«, wimmerte sie. »Ich muss es sehen!« Doch ihre Worte erstarben, als sie in die Schüssel würgte, die Boudicca ihr hinhielt.
»Mearan! Trink! Versuch nicht, zu sprechen, meine Liebe … ich muss das nicht wissen!«
»Du musst wissen …« Mearan röchelte. Einmal mehr war ihr angestrengtes Atmen das einzig vernehmbare Geräusch im Raum. »Nicht hier …«, flüsterte sie schließlich. »Bringt mich zum Heiligen Hain. Dort … werde ich sehen.« Lhiannon bettete Mearan wieder sanft zurück in die Kissen, wo sie mit geschlossenen Augen liegen blieb und schwer atmete. Sie sprach nie wieder.
Der Frühling nahte, doch als die Dunkelheit hereinbrach, war es, als brause der Wind, der die Flammen der Fackeln peitschte, direkt von den noch immer schneebedeckten Gipfeln der Berge über die Meerenge. Helve stand als Hohepriesterin vor dem Altar, und ihre dunklen Gewänder spannten sich wie zu schwarzen Flügeln, als sie die Arme hob. An den Handgelenken trug sie goldene Armreifen, die im Licht der Fackeln funkelten, und auch um den Hals trug sie einen schweren Halsring aus Gold. Hatten diese Schmuckstücke einmal Mearan gehört? Boudicca konnte sich nicht erinnern, sie je an der alten Hohepriesterin gesehen zu haben. Als Mearan die Riten geleitet hatte, erinnerte man sich danach an sie als Person, nicht an das, was sie getragen hatte …
Das Licht warf einen flirrenden Schatten auf die Reihe der Priesterinnen, als diese Helves Begrüßungsgesang im Chor erwiderten. Und auch Boudicca holte tief Luft, um einzustimmen. Warum war nicht Lhiannon die Auserwählte? Mearans heiseres Wispern klang ihr noch im Ohr, als sie davon sprach, Lhiannon zu sehen mit dem Zierkranz der Hohepriesterin um die Stirn. Mearans letzter Stunde hatte keine der Priesterschülerinnen beigewohnt, aber es gingen wilde Gerüchte um die letzten Worte der sterbenden Frau. Hatte sie es sich anders überlegt? Oder hatten die Oberdruiden Mearans Wahl aus selbstbezogenen Gründen ausgeschlagen?
Die neue Hohepriesterin hatte sich in ihre Rolle gut eingefunden, und zwar mit weniger Umschweifen, als mancher es erwartet hätte. Oder bekam man sie nur deshalb so selten zu Gesicht, da sie die meiste Zeit mit den Oberdruiden irgendwelche Besprechungen abhielt? Helve jedenfalls erinnerte Boudicca an eine hochgezüchtete Stute, wie ihr Vater früher einmal eine hatte – stark und schön, und ebenso beiß- wie reitfreudig.
Lhiannon hatte man den Titel ›Herrin des
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