Avalon 04 - Die Hüterin von Avalon
du, dass die Gottheiten beides sind – männlich und weiblich, eins und viele. Wir ehren eine, doch gibt es in der Tat noch eine ganze Reihe anderer, denen ebenfalls jene energievolle Macht innewohnt.« Er stockte, sah auf, und sein Gesicht leuchtete in der Sonne. Und mit einem Mal war sich Boudicca völlig sicher, dass er die Gegenwart, den Quell aller Gottheiten erfahren hatte. Mit einem Lächeln fuhr er fort.
»Wenn wir uns zwischen Diesseits und Jenseits befinden, sehen wir mehr, aber solange wir in einem menschlichen Körper mit einem menschlichen Geist stecken, bleibt vielen nichts weiter, als zu beten und Opfergaben darzubringen.«
Rianor hob die Hand. »Mein Herr, zu welcher Gottheit sollen wir nun beten, da wir einem Krieg entgegensehen?«
»Wie wird diese göttliche Macht in deinem Stamme genannt?«
»Die Trinovanten rufen Camulos an«, antwortete Rianor stolz. »Camulodunon ist die Heimstatt dieses Kriegsgottes.«
Boudicca nickte, erinnerte sich an den großen Baumkreis aus stattlichen Eichen auf einer Au nördlich der königlichen Festung sowie an den Schrein – einen riesigen Felsblock zwischen zwei Bäumen, aus dem die Figur des Camulos herausgemeißelt war, die eine Krone aus Eichblättern trug.
Die anderen Schüler nannten ebenfalls Namen – den roten Cocidios bei den Nordstämmen, Teutates bei den Catuvellaunen und Lenos bei den Siluren. Die Belgen riefen Olloudios an und die Briganten Belutacadros. In Boudiccas Stamm betete man zu Coroticos, wenn man in den Krieg zog, aber wie in so vielen anderen Stämmen betete man zu einer Göttin, zu Andraste, um siegreichen Kampfgeist zu erbitten.
»Falls die Stämme sich vereinigen, welcher Gott oder welche Göttin soll sie dann führen?«, fragte Bendeigid.
»Ich will dir eine Frage stellen«, antwortete der Erzdruide. »Was ist der Unterschied zwischen einem Heer und einem Krieger?«
»Ein Krieger ist ein Mann, und ein Heer besteht aus vielen«, erwiderte der Junge und war nicht der Einzige, der etwas verdutzt dreinblickte.
»Aber das Heer ist viel mehr als eine Ansammlung von Kriegern. Wenn du ›Druide‹ sagst, dann meinst du mich oder Cunitor, oder Mearan. Wenn du aber ›die Druiden‹ sagst, dann sprichst du von einer größeren Einheit, die all unsere Mächte und unsere Traditionen umfasst.«
»Genauso ist es auch bei den Menschen«, sagte Coventa plötzlich. »Eine Frau kann eine Tochter sein, eine Mutter und eine Priesterin, aber man spricht von ihr jeweils immer nur in einer dieser Eigenschaften.«
Der Erzdruide nickte. »Ein Heer besteht ebenfalls aus mehr als nur der Summe seiner Krieger. Es hat einen Geist, eine eigene Seele. Und so ist es auch mit den Gottheiten. Wenn die Krieger eines Heeres eine Kriegsgottheit mit verschiedenen Namen anrufen, dann erwecken sie eine viel größere Macht zum Leben, die all diese Gottheiten umfasst.«
»Nicht alle …«, sagte plötzlich jemand mit ruhiger Stimme. Ardanos war erschienen. »Der Gott der Atrebaten wird nicht mit uns kämpfen. Caratac hat Veric aus seinem Land vertrieben«, sagte er in ernstem Ton.
Einen Augenblick lang herrschte betroffenes Schweigen. Die Nachricht kam zwar nicht unerwartet, aber sie in diesem Rahmen so plötzlich zu hören, war bestürzend, als hätten sie den Kriegsgott herbeigerufen, indem sie bloß über ihn geredet hatten. Der Schrecken darüber stand allen in den Gesichtern, was auch Boudicca nicht entging.
»Seid verflucht, allesamt!«, rief Cloto zornentbrannt und sprang auf. »Und du am meisten von allen!« Er spuckte dem Erzdruiden vor die Füße. »Die Catuvellaunen waren seit eh und je auf unser Land aus, aber ohne eure Unterstützung hätten sie nie gewagt, es zu erobern!«
Cunitor legte ihm beschwichtigend eine Hand auf den Arm. »Komm schon, Cloto, hier sind wir nicht Atrebaten oder Trinovanten, hier sind wir alle Druiden. Lugovalos hat das in seinen Augen Beste für Britannien getan.«
»Er hat den Untergang über unser Volk gebracht!« Cloto zerrte seinen Arm aus Cunitors Griff und stand mit geballten Fäusten da, blickte herausfordernd in die Runde. Lugovalos hätte ihm besänftigend zureden können, aber das tat er nicht. Stattdessen sah er den Jungen nur unverwandt an, und ein tiefer Schmerz blickte aus seinen Augen.
»Du denkst, du bist so weise!«, schnaubte Cloto. »Siehst du denn nicht, dass du genau das über uns bringst, was du so fürchtest? Caratac hat Veric in die Arme der Römer getrieben. Die sind laut Abkommen nun verpflichtet,
Weitere Kostenlose Bücher