Avalon 04 - Die Hüterin von Avalon
Feldern stand das Wasser, überschwemmte das sprießende Korn, und Boudicca fühlte sich an ihre Worte erinnert, die sie Pollio gegenüber geäußert hatte und die ihr jetzt geradezu prophetisch erschienen, denn in diesem Jahr würde die Ernte mager ausfallen. Auf Hilfe aus der Festung Garo konnten sie ebenfalls nicht hoffen. Das Land dort lag noch niedriger, und die Flüsse waren noch breiter angeschwollen. Alle icenischen Stammesführer würden nun die Römer bitten, ihnen das nötige Korn zu liefern, um ihr Volk ein weiteres Jahr ernähren zu können.
Der Regen hielt an, prasselte auf das Dach des Rundhauses, in dem es fortwährend nach Holzrauch, Dung und feuchter Wollkleidung roch, die an den Balken zum Trocknen hing. Den Großteil des Nutzviehs hatte man auf höher gelegene Felder der Festung verbracht und eingepfercht. Doch Tag für Tag kam jemand aus einem anderen nahen Gehöft herbei und bat dringend um Hilfe, seine eingeschlossenen Schafe zu retten oder einen Deich zu verstärken, der ein Haus vor den steigenden Fluten schützte. Nässe und Kälte brachten auch Erkältungen mit sich, die überall im Land grassierten, und Nessa und Boudicca waren in einem fort damit beschäftigt, Kräutertees und Suppen zu kochen.
In den Tagen nach ihrer Ankunft in Camadunon erkannte Lhiannon, dass Arbeitseifer die beste Medizin gegen seelische Qualen ist. Eine Arbeit, die einem die volle Konzentration abverlangte, war besser, als den ganzen Tag auf dem Pferd zu sitzen und trüben Gedanken nachzuhängen. Sie verspürte nicht mehr den Wunsch, weitere Tage als Seelenwanderer zu verbringen auf der Suche nach Bildern von Ardanos, nur um ihn dann in Ketten oder auf dem Sterbebett zu sehen, während ihr Pferd sie immer weiter forttrug. Zudem konnte hier in Camadunon derzeit ohnehin kein einziger Mann entbehrt werden, um sie nach Avalon zu begleiten. Die Verwundeten brauchten ihre Pflege, außerdem musste Essen für die Arbeiter gekocht werden, und abgesehen davon wurde immer irgendwo in der Feste eine helfende Hand gebraucht.
Von Zeit zu Zeit kam ein Schäfer oder Bauer herbei mit Neuigkeiten zum Vormarsch der Römer. Vespasian hatte bei den Großen Steinen Baumeister zurückgelassen, um eine römische Festung aufzubauen, und seinen Feldzug dann fortgesetzt. Mal hieß es, die römischen Truppen rückten nach Norden vor, dann wieder nach Süden, ein andermal hatten sie ihren Feldzug gar ganz beendet. Doch bis zum Fest des Lugos stand fest, dass sie im Anmarsch auf Camadunon waren. Die Gräben zwischen den vier Bollwerken aus Stein und Holz rings um die Festung hatte man noch tiefer gegraben und den obersten Wall mit einer neuen Palisade versehen. Und in die Mauern, die auf die Festungspforte zuführten, hatte man an der nordöstlichen wie der südwestlichen Seite Schießscharten eingelassen. Zudem hatte man an einem neu errichteten Schrein den Göttern einen Ochsen geopfert und Vorräte herangeschafft. Auch viele Männer aus dem Umland waren in die Festung gekommen.
Camadunon lag an der Grenze zwischen dem Ackerland und dem Sommerland. Wenn es fiel, dann hatte Avalon keine Verteidigung mehr außer dem Sumpfland, das es vor Angriffen schützen konnte. Nachts tat Lhiannon kein Auge zu, dachte an die Festung der Großen Steine und kam zu der Einsicht, dass sie die wachsende Verzweiflung über eine Belagerung und den Schrecken vor einem neuerlichen Angriff nicht noch einmal durchstehen könnte. Auf der anderen Seite durfte sie unmöglich die Menschen im Stich lassen, die sich hier an sie klammerten, sie brauchten.
In der Vollmondnacht stand Lhiannon auf dem Bollwerk und schaute über das weite Sumpfland bis zur Grenze zum Sommerland. Schon morgen, so sagten die Späher, würden die Römer hier sein. Die Nacht war kühl und klar, doch im Westen, vom Meer her, zogen Regenwolken herauf. Wie lange, so fragte sie sich, würde es dauern, bis auch dieser Vollmond vom Blut befleckt schien, bis auch dieser Frieden zerstört war von den Schreien der sterbenden Männer? Erschrocken fuhr sie zusammen, als sie eine Hand auf ihrer Schulter spürte, drehte sich um und erblickte Rianor.
»Schau!« Er zeigte nach Nordwesten, wo sich ein spitzer Hügel gegen den Abendhimmel abhob. »Man sieht den Tor – und an einem klaren Morgen auch den kleinen Pyramidenhügel an der Küste. Aus ihnen strömt die Energie der Erde, fließt durch diesen Hügel und weiter. Kannst du sie hier spüren?«
Sie schloss die Augen, erspürte sie mit Sinnen, die sie
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