Avalon 04 - Die Hüterin von Avalon
weiter brüllten alle wild durcheinander. Dort, wo die Holzpfähle der Palisade Feuer gefangen hatten, schlugen leuchtende Flammen empor und drängten die Männer zurück. Genau davor hat uns das Unwetter die ganze Zeit bewahrt, dachte Lhiannon wie betäubt. Tut mir leid, den Regen verflucht zu haben …
Rings herum herrschte wildes Durcheinander, Männer liefen hierhin und dorthin, während von allen Seiten Alarm geschlagen wurde. Sie und Ardanos trennten sich, um die Kisten mit dem noch übrigen Verbandszeug zu holen; und als sie aus ihrer Hütte kam, beobachtete sie, wie einer der Stammesführer Ardanos am Arm packte und zum anderen Ende der Festung zeigte, woraufhin Ardanos nickte, ihr kurz einen verzweifelten Blick zuwarf und losrannte.
Sie brachten die Verwundeten auf den Platz vor Antebrogios’ Haus, legten sie auf Decken, die sie rasch aus den Häusern geholt hatten, die noch nicht in Flammen standen. Eilends kam sie einem Verletzten unmittelbar neben sich zu Hilfe, dem ein Pfeilgeschoss in der Hüfte steckte. Ein dickes Stück Eschholz von knapp einem Schritt Länge mit drei Zacken am Ende ragte aus dem Fleisch. Der Schaft war viel zu dick, weshalb der Pfeil nicht weggebrochen war. Sie würde ihn herausziehen müssen. Es blutete nicht schlimm, sodass sie hoffte, dass keine Arterie durchtrennt war.
»Halte ihn fest«, bat sie den Mann neben ihm, der ebenfalls verletzt war und dessen Bein sie als Nächstes würde schienen müssen. Sein Gesicht war schmerzverzerrt, doch er nickte, drückte sich mit ganzem Gewicht auf seinen Gefährten, während Lhiannon den Schaft unter den Zacken fasste und mit einem kräftigen Ruck daran zog. Der Mann schrie laut auf und fiel dann schlaff in sich zusammen. Lhiannon biss die Zähne zusammen, zog erneut mit aller Kraft. Der Pfeil gab schließlich nach, lockerte sich, und der viereckige Pfeilkopf rutschte heraus und spritzte einen ganzen Schwall Blut über ihre Röcke. Im Fleisch klaffte nun ein riesiges Loch, aus dem immer mehr Blut quoll. Sie griff nach einem Wollpropf, presste ihn auf die Wunde, wickelte einen Stoffstreifen darum und band das Ganze fest zu.
Eigentlich hätte sie seine Wunde mit Wein auswaschen sollen und ihm zur Beruhigung und gegen die Schmerzen einen Aufguss aus Silberweide einflößen müssen. Aber das konnte sie später noch tun, sofern er – oder überhaupt irgendjemand – die nächsten paar Stunden überleben würde. Vielleicht würde er noch bis zum Morgen durchhalten und dann an den Folgen einer Entzündung sterben. Vielleicht aber überlebte er auch, würde als Sklave nach Rom kommen und sich wünschen, lieber gestorben zu sein.
Doch da wurden schon die nächsten Verwundeten gebracht – einer hatte einen Holzspan in der Schulter stecken, einem anderen hatte ein Schleuderstein das Knie zertrümmert. Sie beschränkte sich auf das Wesentliche, auf die nächste Handlung, den nächsten Eingriff, noch mehr Blut, noch mehr Feuer, noch mehr Leid. Männer schrien, bluteten, wurden ohnmächtig oder starben unter ihren Händen. Zwischendurch blickte sie auf, sah den Mond am Himmel, der vom Rauch in der Luft blutrot leuchtete – nein, wie eine unschuldige Göttin sah er nicht aus, vielmehr wie das blutige Schutzschild der Cathubodva, wie ein Mond des Krieges.
Ein regelmäßiges, hohles Dröhnen ließ plötzlich die Erde unter ihr erzittern, und sie dachte zunächst, das heftige Schlagen ihres Herzens zu hören. Erst als die Männer in höchster Eile an ihr vorbeirannten, wurde ihr klar, dass die Römer zum Sturm auf die Festungspforte angesetzt hatten. Trotz der Geschosse schafften es die Verteidiger, dem vorrückenden Feind entgegenzustürmen, einen Speerhagel abzufeuern und die sogenannte »Schildkrötenformation« aufzubrechen – eine spezielle Kampfstellung der Römer, die sie zum Schutz vor starkem Beschuss einnahmen. Sie hielten ihre Schilde nach vorn sowie nach beiden Seiten und hoch über die Köpfe, sodass sie sich überlappten und einen Schutzpanzer bildeten.
Da erblickte sie Caratac in voller Rüstung. Lauthals kommandierte er seine Krieger auf die Spitze des steilen Hanges, damit sie vor der Festungspforte in Position gingen.
»Aus dem Weg!« Und ehe sie sich versah, riss sie einer von Antebrogios’ Wächtern zu Boden und zerrte sie zu einem der Rundhäuser. »Bleib in Deckung! Du kannst jetzt nichts tun!«
Wo war Ardanos? Nervös verfolgte sie das wilde Durcheinander der Männer. Da hörte sie plötzlich den großen Querbalken unter
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