Avalon 04 - Die Hüterin von Avalon
lange hatte brachliegen lassen, ließ sich fallen und ihr Bewusstsein in eine Tiefe sinken, die nicht mehr rein körperlich war, bis sie eine Schwingung spürte, die sich anfühlte wie das eintönige Rauschen des Stroms unter den Kielhölzern eines Bootes auf dem Meer. Und mit ihr frischte eine Erinnerung an die Jenseitige Welt auf, in die sie sich auf dem Tor von Avalon begeben hatte. Wenn sie dort geblieben wäre, wie viel Kummer und Leid hätte sie sich ersparen können – und wie viel Freude …
Die Feenfrau hatte ihr gesagt, dass alle Welten miteinander verbunden sind. Rianor hatte sie nur daran erinnert, dass die Energie von Avalon bis hierher in diese Festung strömte. Konnte sie diese Energie nutzen? War es die Feenfrau oder die Göttin, die ihr Geist nun mit Bildern füllte?
»Rianor … in den vergangenen Wochen haben du und ich bis zum Umfallen gearbeitet, bis uns die Hände bluteten, bis wir nicht mehr konnten. Genauso hart wie alle anderen Arbeiter hier, wenn auch nicht halb so gekonnt, zumindest was mich betrifft. Und darüber haben wir ganz vergessen, wer wir sind.«
Er sah sie flüchtig an, und sie wusste, dass auch er viel zu sehr mit dem Bau der Verteidigungspalisade beschäftigt gewesen war, um an irgendetwas anderes zu denken.
»Wenn die Römer uns hier angreifen, dann werden sie am Ende auch diese Festung einnehmen, so wie sie die Festung der Großen Steine erobert haben. Denkst du nicht, es wäre besser, sie kämen erst gar nicht?«
»Es wäre besser, meine Herrin, wenn sie erst gar nicht über die Enge Meeresstraße gekommen wären.« Er sah sie ernst an, nachdem er bemerkte, dass sie nicht lachte. »Was denkst du?«
»Wir haben Wolken.« Sie zeigte auf die sich türmenden Wolkenberge im Westen. »Wolken und Regen. Und Nebel, der so oft über dem Sumpfland von Avalon liegt. Wenn wir ihn auf dem Energiestrom herunterholen, dann können wir ihn als langes Band um diesen Hügel wickeln.«
Sie spürte, es war an der Zeit, die Energie in Bewegung zu setzen. Mit träumerischer Entschiedenheit zog sie den Umhang fester, legte sich dicht an die Palisade, bedeckte das Gesicht und schloss die Augen, um das Bild der Wolken, das sie eben gesehen hatte, mit ihrem geistigen Auge festzuhalten.
»Pass auf mich auf. Sieh zu, dass niemand mich stört, bis ich wieder bei dir bin. Sende mir so viel Energie, wie du kannst …«
Mit Ardanos an der Seite wäre es ihr leichter gefallen, denn sie hätte ihre Energie mit seiner in eine Schwingung bringen können. Doch während sie langsam immer tiefer in Trance sank, verspürte sie die jugendliche Kraft Rianors, die sie stärkte. Sie verlangsamte ihre Atmung, setzte all ihre Fähigkeiten ein, die sie in langen Jahren ausgebildet hatte, um den Geist vom Körper zu trennen und ihn frei schweben zu lassen.
Wie ein zartes Streicheln spürte sie die Berührung eines anderen Geistes. »Nun bist du doch zurückgekehrt, meine Schwester … in deine Welt.«
»Aber das bin ich gar nicht! Ich bin nicht auf dem Tor!« Mit einem verfeinerten Sinn, der tiefer ging als der Sehsinn, erkannte sie die Frau, zu der sie damals im Feenreich gesprochen hatte. Aber was machte sie hier?
»Da bin ich auch nicht«, antwortete sie. »Wir sind zwischen den Welten, dort, wo alle Welten sich treffen und alle Mächte im großen Tanz dabei sind. Singe die magischen Worte, meine Schwester, spiele die Musik, die deiner Not hilft …«
Warum hatte sie nie zuvor diese Macht zu erreichen versucht? Weil, so erkannte sie in diesem Augenblick, sie noch nie verzweifelt genug gewesen war, weil sie stets auf Ardanos’ Weisheit vertraut und sich auf seine Führung gestützt hatte. Jetzt muss ich auf meine eigene Weisheit vertrauen, dachte sie …
Nebel und Dunst, Wolken und Regen … hört mein Rufen, kommt herbei … Nach außen, in der menschlichen Welt, lag sie still da, doch in ihrem Innern spielte laute Musik. Mit ihrer inneren Wahrnehmung konnte sie die Luftschichten sehen, warme und kalte, voller Geister. Hitze und Kälte vermischen sich in den Himmeln … wo sie sich treffen, steigt Nebel auf … Lachend winkte sie den Luftgeistern zu, band sie ein in den Tanz.
An dem fernen Ort, an dem ihr Körper lag, wurde es zunehmend dunkel und kalt, aber die Zeit hatte dort, wo sie sich befand, eine andere Bedeutung. Als die Wolkengeister einen lichten, kühlen Regen versprühten, frohlockte sie innerlich; sie rief die warme Luft, und der Regen wandelte sich zu Nebel, bevor er niederging.
Feinste
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