Avalon 08 - Die Nebel von Avalon
trotz aller Mühe nicht an die magischen Worte erinnerte, als die Männer im Boot sie baten, die Nebel zu rufen.
Es ist wirklich an der Zeit, daß ich meine Macht abgebe…
Der Zauberspruch fiel ihr wieder ein, und sie beschwor die Nebel. Aber in dieser Nacht hielten Angst und Befürchtungen sie lange wach. Im Morgengrauen blickte sie prüfend zum Himmel. Es war bald Neumond, und es würde nichts nützen, den Spiegel um diese Zeit zu befragen.
Wird es mir noch einmal helfen, in den Spiegel zu blicken, nachdem das Gesicht mich verlassen hat?
Mit eisernem Willen zwang sie sich, den diensttuenden Priesterinnen nichts von ihren Zweifeln zu gestehen. Aber im Verlauf des Tages ging sie zu den Weisen Frauen und fragte: »Gibt es im Haus der Jungfrauen eine Priesterin, die noch nie im Hain war oder an den Beltanefeuern gelegen hat?«
»Taliesins kleine Tochter«, erwiderte eine der Frauen. Viviane verwirrte diese Antwort ein wenig… Igraine war erwachsen, verheiratet, verwitwet und Mutter des Großkönigs von Caerleon. Auch Morgause war vermählt und die Mutter vieler Söhne. Dann faßte sie sich wieder und sagte: »Ich wußte nicht, daß eine Tochter von ihm im Haus der Jungfrauen lebt.« Es hatte eine Zeit gegeben, dachte sie, daß kein Mädchen ohne ihr Wissen in das Haus der Jungfrauen gebracht wurde.
Sie
hatte jede Anwärterin der Prüfung unterzogen, um festzustellen, ob sie die Gabe des Gesichts besaß und sich eignete, die Weisheit der Druiden zu erlernen. Aber in den letzten Jahren hatte sie sich das aus der Hand nehmen lassen. »Sagt mir, wie alt sie ist? Wie heißt sie? Wann ist sie zu uns gekommen?«
»Sie heißt Niniane«, antwortete die älteste Priesterin. »Sie ist die Tochter von Branwen… erinnert Ihr Euch? Branwen sagte, Taliesin habe das Kind am Beltanefeuer gezeugt. Es scheint noch nicht viel Zeit vergangen, aber sie muß elf, zwölf Jahre oder noch älter sein. Sie wuchs irgendwo im Norden auf und kam vor fünf oder sechs Jahren zu uns. Sie ist ein gutes und gehorsames Kind. Und es kommen nicht mehr so viele Jungfrauen zu uns, als daß wir wählen und aussuchen könnten, Herrin! Es gibt keine Mädchen mehr wie Raven oder Euer Ziehkind Morgaine. Wo ist Morgaine, Herrin? Sie sollte wiederkommen!«
Viviane antwortete: »Das sollte sie wirklich«, und schämte sich zuzugeben, daß sie nicht einmal wußte, wo Morgaine sich aufhielt, oder ob sie überhaupt noch am Leben war.
Woher nehme ich die Anmaßung, die Herrin vom See zu sein, wenn ich nicht einmal den Namen meiner Nachfolgerin kenne oder weiß, wer im Haus der Jungfrauen wohnt? Aber wenn Niniane eine Tochter Taliesins und einer Priesterin von Avalon ist, dann muß sie die Gabe des Gesichts besitzen. Wenn nicht, kann ich sie dazu bringen zu sehen, solange sie noch Jungfrau ist.
Viviane sagte: »Ich möchte, daß Niniane in drei Tagen frühmorgens vor Sonnenaufgang zu mir kommt.« Sie sah die vielen Fragen in den Augen der Priesterinnen, stellte aber mit einer gewissen Befriedigung fest, daß sie noch immer die unangefochtene Herrin von Avalon war, denn keine der Frauen äußerte sich laut.
Niniane kam am Tag des neuen Mondes eine Stunde vor Sonnenaufgang zu ihr. Von Selbstzweifeln gequält, hatte Viviane in dieser Nacht kaum geschlafen. Sie zögerte, das Ansehen ihrer Macht abzugeben. Nur in Morgaines Hände konnte sie die Herrschaft mit ruhigem Gewissen legen. Sie hielt das kleine sichelförmige Messer in der Hand, das Morgaine zurückgelassen hatte, als sie Avalon verließ, legte es dann beiseite, hob den Kopf und betrachtete Taliesins Tochter.
Die alte Priesterin verliert wie ich das Gefühl für die Zeit. Das Mädchen ist sicher älter als elf oder zwölf.
Ehrfürchtig erschauernd stand das Mädchen vor ihr. Viviane erinnerte sich, daß auch Morgaine gezittert hatte, als sie zum ersten Mal die Herrin von Avalon sah.
Sie fragte freundlich: »Bist du Niniane? Wer sind deine Eltern?« »Ich bin die Tochter von Branwen, Herrin. Aber den Namen meines Vaters kenne ich nicht. Meine Mutter sagte nur, ich sei ein Beltanekind.«
Das klang vernünftig. »Wie alt bist du, Niniane?«
»Vierzehn Winter in diesem Jahr.«
»Und warst du schon bei den Feuern, mein Kind?« Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Ich bin noch nicht gerufen worden.«
»Kommt das Gesicht zu dir?«
»Ich glaube, nur schwach, Herrin«, sagte sie, und Viviane seufzte.
»Wir werden sehen, Kind. Komm mit mir.« Sie verließen das Haus und gingen den verborgenen Pfad hinauf zur
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