Avalon 08 - Die Nebel von Avalon
dauerte Jahre, ehe ich spürte, daß die Gezeiten wieder in meinen Adern pulsierten. Schließlich wußte ich auch wieder bis auf Haaresbreite, wo am Horizont Sonne oder Mond auf- oder untergehen würden, damit ich die Gebete sprechen konnte, die ich einst gelernt hatte. Spät in der Nacht, wenn das ganze Haus in Schlaf gefallen war, beobachtete ich die Sterne und lieft ihren Einfluß
in mein Blut übergehen. Sie kreisten und drehten sich um mich, bis ich nur ein Fixpunkt auf der bewegungs
losen Erde war, die Mitte des wirbelnden Tanzes über mir und um mich herum, das spiralförmige Kreisen der Jahreszeiten. Ich stand früh auf und ging spät schlafen, um Zeit zu finden, durch die Hügel zu streifen. Ich gab vor, Wurzeln und Kräuter für Heilgetränke zu suchen, spürte den alten Linien der Kraft nach, folgte ihnen vom hochaufgerichteten Stein bis zum verborgenen Teich… ein mühsames Unterfangen. Es dauerte Jahre, bevor ich auch nur ein paar der alten Zeichen in der Umgebung von Uriens'
Burg erkannte.
Aber schon in dem ersten Jahr, als ich meiner schwachen Erinnerung wieder abrang, was ich vor so vielen Jahren wußte, bemerkte ich bald, daß ich die Nachtwachen nicht alleine hielt. Ich sah nie mehr als in der ersten Nacht: Zwei schimmernde Augen in der Dunkelheit, eine flüchtige Bewegung aus den Augenwinkeln… man sah sie selten, selbst hier in den fernen Hügeln in der Nähe der Dörfer oder auf den Feldern. Sie lebten ihr eigenes Leben verborgen in den verlassenen Hügeln und Wäldern, wohin sie bei der Ankunft der Römer geflohen waren. Aber ich wußte, sie waren da: Die Alten Leute, das Kleine Volk, das die Göttin nie im Stich gelassen hatte, wachte über mich.
Einmal entdeckte ich weit weg von der Burg einen Ring aus Steinen. Er war nicht so groß wie auf dem Berg in Avalon und erst recht nicht wie der frühere Tempel der Sonne auf der großen Kreideebene. Die Steine hier reichten mir nur bis zur Schulter (und ich bin nicht groß). Der Kreis entsprach im Durchmesser einem großen Mann. In der Mitte lag ein kleiner behauener Stein, halb versteckt, dessen Zeichen verblaßt und von Flechten bewachsen waren. Ich befreite ihn von Gras und Flechten. Wann immer es mir gelang, unbeobachtet in der Küche etwas Essen mitgehen zu lassen, ließ ich für das Volk der Göttin dort Speisen zurück, welche die Kleinen Leute, wie ich wußte, nur selten zu Gesicht bekamen: ein Gerstenbrot, Käse, ein Stück Butter. Einmal fand ich dort einen Kranz aus duftenden Blüten. Diese Blumen wuchsen nur im Feenreich. Sie waren getrocknet und würden nie verblassen.
Als ich Accolon beim nächsten Vollmond mit in die Felder nahm, trug ich den Kranz auf meiner Stirn, während wir in der feierlichen Vereinigung zusammenkamen, die uns als Menschen davontrug, und nur die Göttin und den Gott zurückließ, ein Unterpfand für das ewige Leben des Universums, für den Strom der Kraft, der zwischen Mann und Frau ebenso floß wie zwischen Erde und Himmel. Nach dieser Nacht war ich jenseits meiner Gartenmauern nie mehr allein. Ich wußte, daß ich nicht nach ihnen Ausschau halten konnte. Aber sie waren da. Ich wußte, sie würden bei mir sein, wenn ich sie brauchte. Nicht umsonst hatte man mir diesen alten Namen gegeben: Morgaine, die Fee… und jetzt erkannten sie mich an als ihre Priesterin und ihre Königin.
Ich wanderte durch die Nacht zum Ring der Steine, als der Erntemond am Vorabend zum Tag der Toten tief am Himmel stand. Der kalte Atem des vierten Winters ließ mich frösteln. In meinen Mantel gehüllt, hielt ich zitternd die Nachtwache. Schneeflocken fielen vom Himmel, als ich mich erhob und meine Schritte heimwärts lenkte. Aber als ich das Heiligtum verließ, stieß mein Fuß gegen einen Stein, der bei meiner Ankunft noch nicht dort gelegen hatte. Ich beugte mich hinunter und sah mit weißen Steinen ein Muster gelegt. Ich verschob einen davon, um die nächste Folge der Magischen Zahl zu bilden – die Linie hatte sich verändert: Jetzt standen wir unter dem Einfluß der Wintersterne. Frierend und zitternd wanderte ich nach Hause und erzählte, ich hätte in den Hügeln in einer leeren Hütte übernachtet.
Uriens hatte sich schon Sorgen um mich gemacht und zwei Burgwachen ausgeschickt, um mich zu suchen. Tiefer Schnee lag schon auf den Bergen, und ich mußte fast den ganzen Winter in der Burg verbringen. Aber ich wußte, wenn der Sturm sich legte, wollte ich zur Wintersonnenwende hinaus zum Ring der Steine wandern. Ich zweifelte
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