AvaNinian - Drittes Buch (German Edition)
Treu, Ninian, Weiß steht dir einfach hinreißend. Denk doch an die Robe, die du in den Wilden Nächten getragen hast ...«
»Kaye!«
Wie der Blitz war sie zu dem unseligen Schneider herumgefahren.
»Hör auf zu schwatzen und mach das Schulterband noch mal fest. Wehe dir, wenn es nicht hält! Die Spange zerkratzt mir die Haut und die Bänder von deinen albernen Sandalen rutschen ...«
Sie hatte es vermieden, ihn anzusehen, aber Jermyn hatte verstanden, worauf Kaye anspielte. In diesem Augenblick war es ihm gleich gewesen, was in den Wilden Nächten geschehen war. Heute stand sie neben ihm und als die Menge bei ihrem Auftritt geschnurrt hatte wie ein gigantischer Kater, hatte er geglaubt, seine Brust müsse vor Stolz bersten.
Die Erinnerung erfüllte ihn mit angenehmer Wärme, ein langer unterhaltsamer Tag lag vor ihm. Er würde einen ganzen Teil der Ehre einheimsen, wenn die Scytenschule über die anderen triumphierte, und in der Nacht würde Ninian in seinen Armen liegen, keine kalte Göttin, sondern warm und lebendig.
Vor Freude nachsichtig, lauschte Jermyn mit halbem Ohr auf das, was der Alte in seinem roten Putz verkünden ließ.
»MIT INNIGSTER RÜHRUNG ... SAHEN WIR DEN EIFER ... MIT WELCHEM DIE BRAVEN BÜRGER DIESER STADT ... SICH DER GEWALTIGEN ARBEIT ANNAHMEN ...«, dröhnte es aus den kupfernen Trichtern, und der Patriarch nickte würdevoll, so dass die Diamanten an seinem Barett blitzendes Feuer versprühten.
»NICHT ZEIT NOCH MÜHE ODER GELD SCHEUEND ...«
Jermyn grinste bei diesen Worten. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, dass Ninian sich aufgerichtet hatte und sah zu ihr hinüber.
»Als ob er ihnen eine Wahl gelassen hätte ... Ninian, was ist?«
»UM DAS WERK ZU VOLLENDEN ...«
Sie war halb von der Liege geglitten und zuerst dachte er, sie nestle an den Bändern ihrer Sandalen. Dann sah sie auf und er erschrak.
Ihr Gesicht war weiß und hart wie aus Marmor und in den hellen Augen lag nicht mehr Ausdruck als in den leeren Augenhöhlen der toten Figuren. Sie schien zu lauschen.
»Ninian ...«
»NUN IST ES VOLLBRACHT...«
»Ninian!«
Jermyn griff über den Tisch nach ihrer Schulter und beinahe wunderte es ihn, sonnenwarme Haut unter seiner Hand zu spüren. Sie schien es nicht zu merken und ein kleiner, kalter Schauer kroch ihm über den Rücken. Er schüttelte sie ein wenig.
»UND SOLL BESTAND HABEN ...«
»Er stürzt ein.«
»FÜR ALLE ZEIT UND EWIGKEIT!«
»Wie? Was redest du?«
Sie hatte kaum die Lippen bewegt. Die Kälte griff nach Jermyns Herzen, er schüttelte sie so heftig, dass ihr Kopf in den Nacken flog und ihre Zähne aufeinander schlugen. Aber es weckte sie aus ihrer Versunkenheit.
»Jermyn, der Zirkus«, sie starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an, »er wird einstürzen! Es gab wieder einen Erdstoß, viel stärker als alle anderen in der letzten Zeit.«
»WIR WOLLEN DIESE GRÖSSE ERHALTEN UND UNS NICHT VERLIEREN ... IN DER JÄMMERLICHEN ENGE ... DER TÄGLICHEN MÜHEN.«
»Gerade unter dem Zirkus hat es eine Verschiebung gegeben. Es sind zu viele Menschen hier, der Druck auf die Fundamente ist zu groß, sie geben nach. Alles wird zusammenbrechen ...«
Die Worte entrangen sich ihr heiser und abgerissen. Ihre Stimme hatte keinen Klang und Jermyn musste sich weit über den Tisch beugen, um sie zu verstehen. Wag und Kamante, die ein Stück weit zurück saßen und von der gestikulierenden Gestalt des Patriarchen völlig gefesselt waren, achteten nicht auf das seltsame Gebaren ihrer Herrschaft.
Jermyn versuchte das Ungeheuerliche zu begreifen, aber die Worte des Patriarchen dröhnten ihm hartnäckig in den Ohren.
»WIE WIR DIESES WERK ...«
»Hat der Erdstoß noch mehr Schaden angerichtet, auf dem Ruinenfeld?«
Ungeduldig schob er den Tisch beiseite, um ihr näher zu sein. Sie schüttelte den Kopf. Ihr Gesicht war spitz geworden und Schweiß stand auf ihrer Stirn.
»Nein, ich hab es rechtzeitig bemerkt, ich konnte die Erdgeister beruhigen, aber diese Verschiebung - sie hat sich über viele Tage aufgebaut und mit einem Ruck gelöst. Die Fundamente sind alt und schadhaft und die vielen Menschen, die Belastung ist zu groß, alles ist in Bewegung geraten. Meister Violetes hatte recht, Jermyn ...«
»DURCH GEMEINSAME ANSTRENGUNG ... GEMEISTERT HABEN ...«
Sie hatten über den Baumeister gespottet, ihn leichthin zum Scharlatan erklärt, weil er ihnen nicht zu Willen gewesen war und seine Warnungen in den Wind geschlagen.
»Ich hätte nur ein einziges Mal zu den
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