AvaNinian – Erstes Buch (German Edition)
wie ein Fell den Schädel über dem gutmütigen Gesicht.
Jermyn hob die Brauen.
»Könnt schon sein«, sagte er vorsichtig, »sollte ich dich kennen?«
»Ich war einer von Ganevs Jungs, Mann, genau wie du! Erinnerste dich nich an Babitt?«
Jermyn sah den schäbigen Speicher vor sich, auf dem Ganev mit ihnen hauste und sie in der Kunst des Taschendiebstahls unterwies. Und da war Babitt, laut und derb, aber umgänglich. Sie hatten nie Streit gehabt.
»Damals warst du aber nicht blond, wenn ich mich nicht irre, oder?«
Babitt lächelt etwas verschämt.
»Tja, is zwar künstlich un kost mich 'n Heidengeld, aber die Mädels mögen es.«
Die anderen lachten und Jermyn grinste. Der Druck, der auf ihm lastete, hob sich ein wenig. Gegen Babitt hätte er nichts einzuwenden, er war ein verlässlicher Gefährte. Blieb die Frage, ob er der passende war ... zweifelnd betrachtete Jermyn die gedrungene Gestalt, die kräftigen, aber kurzen Arme. Babitt bemerkte den Blick und zuckte bedauernd die Schultern.
»Tut mir leid, Bruder, bin im Gewerbe geblieben, aber als Maulwurf. Ich kriech in die Erde un buddle mich durch, wenn de verstehst was ich meine«, er zwinkerte verschmitzt, »als Fliege an der Wand bin ich nich geeignet. Ah, jetzt fällt's mir ein: Du heißt Jermyn, nich wahr?«
Jermyn nickte. Ohne sich seine Enttäuschung anmerken zu lassen, musterte er die übrigen Männer. Duquesne hatte kein gutes Urteil bewiesen. Außer Babitt, der ganz offensichtlich kein Kletterer war, hatte er nur Nieten ausgesucht.
Der Kerl mit dem vorlauten Mundwerk schielte, zwei andere waren stiernackige Schläger, deren klobige Finger in keiner Mauerritze Halt fänden. Sie wichen seinem Blick aus und stierten angestrengt auf den Tisch. Keinen von ihnen konnte er sich an der Stadtmauer vorstellen. Blieb der letzte ...
Der Mann saß im Schatten und hatte sich nicht gerührt, seit Jermyn gekommen war. Vor ihm stand ein Wasserkrug neben dem Weinbecher, als wolle auch er einen klaren Kopf behalten.
Er schien Jermyns Blick zu spüren und beugte sich vor. Kein schäbiger Gauner aus den dunklen Vierteln – ein Südländer, braunhäutig mit einer Nase, so scharf gebogen wie die Schnäbel der Wasserspeier im Haus der Weisen.
Sie musterten sich schweigend. Kein Muskel bewegte sich in dem dunklen Gesicht.
»Wie lange brauchst du, um eine dreißig Fuß hohe Mauer hochzuklettern?«, fragte der Mann unvermittelt.
»Kommt drauf an«, erwiderte Jermyn misstrauisch, »unter welchen Umständen. Warum?«
Der andere lächelte herablassend.
»Ich klettere einen vierzig Fuß hohen Mast in zwei Umdrehungen hoch. Unter allen Umständen! Bei Nacht, im Sturm, wenn das verdammte Ding schwankt wie besoffen und bei Regen, wenn es glatt ist wie Schmierseife.«
Jermyns Nackenhaare richteten sich auf.
»Zwei Umdrehungen? Von was?«
»Sanduhr. Solange wie dein Kahwe zieht«, der Mann deutete mit dem Kinn auf Jermyns Tasse, »mit einer Mauer werde ich auch fertig. Einen besseren Begleiter findest du nicht.«
Er hatte Recht. Unter der ärmellosen, lederne Weste hatte er nicht eine Unze Fett am Leibe. Die sehnigen, braunen Arme, die Hände mit den kurzen, breiten Nägeln schienen eisenhart. Er war sich seiner Sache sehr sicher. Voller Widerwillen betrachtete Jermyn das hagere Gesicht mit den heißen, verächtlichen Augen.
»Wie heißt du?«, fragte er, um Zeit zu gewinnen.
»Dubaqi, ich bin Seemann.«
»Ach nee. Warum bist du dann nicht auf 'nem Schiff und tust dich dort mit deinen fabelhaften Kletterkünsten groß?«, höhnte Jermyn, aber er war nicht mit dem Herzen dabei. Der Südländer runzelte die Brauen.
»Mein Steuermann und ich konnten uns nicht einigen«, knurrte er, »wir wurden beide etwas hitzig. Jetzt kühlt er sich bei den Fischen ab und ich muss für eine Weile den Hafen meiden. Dein Angebot kommt mir gelegen. Also, wie ist es?«
Die Geschichte klang glaubhaft, vielleicht stimmte sie sogar, aber Jermyn schwieg. Der Mann gefiel ihm immer weniger. Die anderen wurden unruhig, sie rutschten auf ihren Stühlen herum und Babitt schäkerte mit dem Schankmädchen. Dubaqi rührte sich nicht, gelassen hielt er Jermyns Blick stand. Plötzlich zuckte es um seine Mundwinkel.
»Entscheide dich, Mann, niemand außer mir ist der Stadtmauer gewachsen.«
Jermyn entging das halbe Lächeln nicht und mit einem Mal verstand er.
Dies war der Komplize, den Duquesne ihm von Anfang an zugedacht hatte. Die anderen hatte er nur hergeschickt, um zu verschleiern, dass er
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