AvaNinian – Erstes Buch (German Edition)
den Kopf.
»Sie hat gespürt, dass es nicht von der Erde kommt. Kalt? Für mich fühlt es sich nicht kälter an als gewöhnliches Silber.«
Jermyn berührte das Schmuckstück, auch er konnte keinen Unterschied feststellen.
»Ich sagte Euch doch, sie ist ein Kind der Erde. Sie wird immer merken, was nicht hierher gehört. Aber dass sie es als böse und feindselig empfindet – am Ende hat es den Castlerea kein Glück gebracht, wie wertvoll es auch sein mag. Ich bin jedenfalls froh, wenn sich das Himmelssilber in gutes Erdengold verwandelt. Dagegen wird sie hoffentlich nichts haben.«
Nach und nach reichte Vitalonga Ninian auch die anderen Schmuckstücke. Sie nahm sie und hörte sich Jermyns Erklärungen an, ohne sonderlich beeindruckt zu sein. Nur eine ungewöhnlich große, tropfenförmige Perle weckte ihr Interesse.
Sie stand auf, legte sich die feine Kette um den Hals und betrachtete sich in den polierten Bronzespiegeln an der Wand. Der schimmernde Tropfen schmiegte sich in ihre Halsgrube, als gehöre er dorthin.
»Angeblich die letzte Träne der Meeresgöttin, die Dea gegründet hat, nachdem ihr menschlicher Geliebter umgekommen war«, erklärte Jermyn unbekümmert, »sie konnte seinen Verlust nicht verwinden und löste sich im Schaum der Wellen auf, sagt Vitalonga. Wer weiß, ob's stimmt, für 'ne Braut ist es jedenfalls nicht aufmunternd.«
Er trat hinter sie und berührte behutsam die Perle.
»Sie sieht wunderschön aus an deinem Hals. Willst du sie behalten?«
Ninian starrte ihr Spiegelbild an. Die Perle war ein Ding von großer Schönheit, warm und beinahe lebendig an ihrer Haut, wie Jermyns Finger.
Die Träne einer Göttin. Nie gekannte Traurigkeit streifte sie wie der Schatten eines großen Vogels, sie spürte eine verzweifelte Leere, die kein fühlendes Wesen ertragen konnte.
Hastig nahm sie den Schmuck ab und gab ihn Vitalonga zurück. Sollte eine Andere das Unglück tragen, sie wollte es nicht.
»Ich brauche keine Perlen«, erklärte sie brüsk und schob den ganzen Brautschatz entschieden von sich. Jermyn zuckte die Schultern und Vitalonga atmete erleichtert auf. Er hatte den Verdacht, dass keine Macht Jermyn dazu gebracht hätte, den Brautschatz herauszurücken, wenn dieses Mädchen ihn für sich verlangt hätte.
Liebevoll wickelte er jedes Schmuckstück in seinen Lederlappen, packte es sorgfältig in den Beutel und reichte ihn Jermyn. Die rechte Hand auf dem Herzen, verbeugte er sich vor dem jungen Dieb.
Berührt von der Dankbarkeit des Alten erwiderte Jermyn die Geste. Als er die Hand auf die Brust legte, knisterte Papier unter seinen Fingern und erinnerte ihn an den Brief in der fremden Schrift, den er aus Fortunagras Kabinett genommen hatte. Er zog ihn hervor und hielt ihn dem Kunsthändler mit dem unbedingten Vertrauen des Unwissenden hin.
»Versteht Ihr das, Vitalonga?«
Der alte Mann nahm das Papier entgegen und nickte.
»In dieser Schrift schreibt mein Volk ...«
Er begann zu lesen, aber schon nach wenigen Zeilen erbleichte er und als er die Augen hob, waren sie dunkel vor Angst. Das Licht seines Geistes ermattete, nur mit Mühe konnte er die nächsten Gedanken formen.
»Woher ... woher habt Ihr diesen Brief? Wenn man ihn bei Euch findet, seid Ihr ein toter Mann.«
Jermyn hob die Brauen. »Warum? Was steht denn drin?«
Der alte Mann presste die Lippen zusammen. Wäre er der Sprache noch mächtig gewesen, so hätte er jetzt die Antwort verweigert, aber seine Gedanken konnte er nicht verbergen.
»Verrat, Hochverrat!«
»Ein vornehmer Kerl aus den Südreichen bedankt sich für Nachrichten über die Kauffahrerflotten. Anscheinend verrät ihm ein schwatzhafter, geldgeiler Spitzel aus Dea, wann und auf welchen Routen sie fahren und wie viele bewaffnete Begleitschiffe sie haben. Der Südler verkauft diese Neuigkeiten an die Battaver, von denen Fortunagra gefaselt hat, und die machen reiche Beute. Deshalb haben die Kaufleute in der letzten Zeit so viele Schiffe verloren, ich denke, der Verräter streicht ein nettes Sümmchen ein. Das ist aber nicht alles ... he, warte, lass mir auch noch was übrig.«
Sie hockten auf dem Brückengeländer über Vitalongas Laden, einen Stapel Sirupfladen zwischen sich. Jermyn sah vorwurfsvoll auf das leere Papier, das der Wind zu dem übrigen Unrat in den Fluss hinunterwehte. Da er erzählen musste, was Vitalonga ihm vorgelesen hatte, war Ninian, hungrig und in den Bericht versunken, auch über seinen Anteil hergefallen.
»Willst du noch
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