AvaNinian – Erstes Buch (German Edition)
reicht fürs erste«, er grinste, »wir sollten uns jetzt zum Patriarchenpalast durchschlagen. Ich möchte einen guten Blick auf den tapferen Artos und die ganze vornehme Bande haben. Hey, es sah gut aus, wie du das eben gemacht hast, als ob man eine heiße Stahlfeder durch eine Wachstafel zieht. Willst du vorgehen?«
Bevor sie antworten konnte, ging eine Bewegung wie eine große Welle durch die Menge und schob sie mit unwiderstehlicher Gewalt gegen ihn. Durch die dünne Kleidung spürte sie seinen harten, mageren Körper, er roch nach Seifenkraut und Kahwe. Ihre Wimpern streiften seine Wange, sie wagte nicht, die Augen zu heben, und starrte angestrengt auf sein Kinn. Das Lachen war ihm vergangen, er atmete schnell und sie fühlte sein Herz schlagen, ihr eigenes schien seine Arbeit eingestellt zu haben.
Ein zweiter Ruck stieß sie von ihm weg und hätte sie beinahe von den Füßen gerissen. Jermyn erwischte gerade noch ihren Arm und umklammerte ihn so heftig, dass sie leise aufschrie. Seine Augen brannten in dem blassen Gesicht.
»Oi, pass auf«, sagte er schroff. »Wenn du hier fällst, kommst du nicht mehr hoch. Jetzt geh schon vor, verschwinden wir.«
Wortlos, ohne ihn anzusehen, schob sie sich an ihm vorbei und er zuckte zusammen, als ihn glühende Nadelstiche trafen, unangenehm genug, um selbst in dieser Enge noch ein wenig beiseite zu rücken. Lange würde er dieses Spiel nicht mehr ertragen. Er hatte sich kaum beherrschen können und er konnte nicht glauben, dass sie seine Erregung nicht bemerkt hatte. Wollte sie ihn auf Abstand halten, weil seine Berührung sie immer noch abstieß? Missmutig folgte er ihr durch die sich widerstrebend teilende Menge. Sollten doch die Dämonen der Unterwelt alle zaudernden Weiber holen!
Finster blickte er auf die feinen Haarsträhnen, die in ihrem Nacken klebten. Niemand konnte sie wirklich für einen Jungen halten und die knabenhafte Kleidung verbarg wenig von ihrer Gestalt. Seine Blicke waren gewiss nicht die einzigen, die ihr folgten. Plötzlich ging es über seine Kräfte, womöglich noch einmal die süße Qual ihres Körpers an dem seinen zu spüren.
»Ninian!«
Sie drehte sich um, die grauen Augen schienen ihm undurchdringlich und kalt.
»Bin gleich wieder da.«
Ohne auf Antwort zu warten, blieb er zurück. Eine Weile ließ er sich mit dem Strom treiben und griff wahllos links und rechts in fremde Taschen. Dabei musste man seine Gedanken zusammenhalten und konnte nicht über wankelmütige Frauenzimmer grübeln.
Er nahm, was ihm gerade in die Finger kam. Seidene Tücher ließ er fallen und wenn die Börse mager war, zog er die Hand zurück. Nicht weil es ihm leid tat, einen armen Mann zu bestehlen, sondern weil er sich nicht mit Kupfermünzen belasten wollte. Der alte Ganev hatte ihnen beigebracht, mit den Fingerspitzen zu sehen, wie er es nannte. Jermyn hatte diese Fähigkeit nie verloren, wenn jetzt auch nicht mehr seine tägliche Mahlzeit davon abhing.
Einmal wurde seine Hand gepackt und festgehalten, aber auch für diesen Fall hatte Ganev sie abgerichtet.
»Nehmt e bissel Haut zwische de Nägel, Jüngelche, un kneift zu, kneift, dass dem Bastard des Wasser aus de Auge spritzt. Spannt eure Hand un wenn se glaube, se habe euch, macht die Finger schlaff, so könnt ihr ihne entschlüpfe, meine Täubche ...«
Als der Mann losbrüllte, erst aus Freude, weil er den Dieb gefangen glaubte, dann vor Schmerz, war Jermyn schon frei und sein Gesicht war nur eines der vielen befremdeten Gesichter, die sich dem schreienden Mann neugierig und belustigt zuwandten.
»Guckt nich weg, wenn einer merkt, dass er gemolke wurd un ,Dieb' schreit, solang er euch nit am Wickel hat. Glotzt ihn an – so, mit offnem Mäul, als ob ihr nit recht im Kopfe seid. Lauft nie weg, drängelet euch vor, schimpft mit auf den dreisten Dieb, so wern se euch nie draufkomme.«
Er war ein guter Lehrmeister gewesen, der Ganev, und Jermyns Opfer konnte nur hilflos von einem zum anderen blicken. Da er nicht wirklich bestohlen worden war, wurde der Mann es bald leid, von allen begafft zu werden, und gab sich brummend damit zufrieden, dass er seine Börse behalten hatte.
Als Jermyn seine Ruhe wieder gefunden hatte, stand die Sonne hoch am Himmel, es konnte nicht mehr lange dauern, bis der Brautzug heranziehen würde.
Alle, die ihm im Weg standen, glaubten scharfe Zähne an ihren Waden zu spüren. Sie wichen hastig zur Seite, so dass er ohne Mühe bis zur Absperrung an der Ehrentribüne vordringen
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