AvaNinian – Erstes Buch (German Edition)
könne, auch wenn's den Vätern nicht recht sein wird. Sie han sie den Berg hoch zum Monolithen g'schickt. Sie soll dort d' Sonn aufgehn sehn, weil des ihre Lebenskräft stärke tät.«
»Und weil sie aus dem Weg ist, bis ich verschwunden bin«, fiel Jermyn ihm bitter ins Wort, »woher weißt du das alles?«
»Ich war dabei, als die Väter mit ihr g'sproche han. Ich hatt sie besucht und stand noch drauße vor der Tür.«
»Ist sie ... ist sie allein da oben?«
»Ja, drauf hat se b'stande, sie wollt allein sei.«
Jermyn nickte grimmig. Er verstand, warum die Väter Ninian weggeschickt hatten. Aber diesmal irrten die weisen Männer – er würde seine letzte Begegnung mit ihr haben!
In einem seltenen Anfall von Dankbarkeit umarmte er den überraschten Quentin.
»Danke, Bruder, du bist ein guter Kerl. Ich werd's dir nicht vergessen. Leb wohl.«
Er lief zum Torhaus und bevor er darin verschwand, drehte er sich noch einmal um und winkte triumphierend.
Ava hatte keine Erleichterung gefunden, mit schwerem Herzen machte sie sich auf den Rückweg. Als sie um die letzte Kehre kam und auf die Kreuzung der Hundert Wege hinabblickte, blieb sie ärgerlich stehen. Jemand kam ihren Pfad herauf: Die Väter schickten nach ihr, obwohl sie niemanden sehen wollte. Der Mann hatte einen Packen auf dem Rücken und trug Reisekleidung. Jetzt sah er auf und die Kapuze fiel zurück. Rotes Haar flammte in der Sonne.
Sie spürte, wie die Beine unter ihr nachgaben. Sie hatte Jermyn fortgewünscht und wie es schien, erfüllten die Götter ihren Wunsch.
»Du gehst weg«, stammelte sie töricht, als er vor ihr stand.
Jermyn sah sie an. Den blauen Umhang hatte sie auch bei ihrer ersten Begegnung hier an dieser Stelle getragen. Ein vornehmes Fräulein, hoch zu Ross. Kühl und ungerührt hatte ihr Blick auf ihm geruht, war über ihn hinweggeglitten, als sei er nichts anderes als ein Stein am Wegrand.
Jetzt waren die grauen Augen wie ein stürmischer Herbsthimmel und in ihrem Gesicht las er die gleiche Verzweiflung, die ihm das Herz abdrückte. Am liebsten hätte er sie an sich gezogen, aber sie würde ihn zurückstoßen und er wollte nicht im Streit von ihr scheiden.
»Ja, sie schmeißen mich raus. Ich bin gekommen, um dir Lebewohl zu sagen, Ninian.«
Als sie nicht antwortete, fuhr er fort: »Sie haben mir gesagt, dass du mir das Leben gerettet hast. Dafür danke ich dir.«
Bevor sie ihn hindern konnte, ergriff er ihre Hand und zog sie an die Lippen. Bei der kühlen, sanften Berührung verlor Ava die Fassung. Ungestüm riss sie sich los und wich zurück, die Augen zu Boden gesenkt, um die aufsteigenden Tränen zu verbergen.
Bitter sah Jermyn den Aufruhr, in den er sie versetzt hatte. Ihr war ebenso elend zumute wie ihm, aber um nichts in der Welt würde sie es zugeben, das edle Fräulein! Doch er würde ihr ein Andenken mitgeben.
»Ich verschwinde jetzt, zurück nach Dea, wo ich hingehöre. Aber du wirst mich nicht los, verstehst du? Du und ich, wir gehören zusammen, auch wenn du dich dagegen wehrst. Wir werden beide unglücklich sein, ganz gleich, was wir sonst auch tun, verlass dich darauf, Ninian. Lebwohl!«
Ohne aufzusehen, flüsterte sie tonlos: »Lebwohl, Jermyn.«
Einen Moment zögerte er noch, dann wandte er sich mit einem Schulterzucken ab und ging den Weg hinunter in die Ebene. Ava hob rasch den Kopf. Wütend wischte sie die Tränen fort, die ihren Blick verschleierten. Er drehte sich nicht um, aber sie sah ihm nach, bis er im morgendlichen Dunst verschwunden war.
Erster Teil: Der Brautschatz
1. Kapitel
19. Tag des Rebenmondes 1463 p. DC
Jermyn stand im Schatten des Torbogens und kniff geblendet die Augen zusammen. Vor Sonnenaufgang war er von seiner letzten Raststätte aufgebrochen und hatte die Stadt durch das Nordtor betreten. Vor ihm lag die riesige Fläche des Volksplatzes, trotz der frühen Stunde wimmelnd von Menschen. Im grellen Morgenlicht warf der gewaltige Steinpfeiler in seiner Mitte einen scharfen Schatten über ihre Köpfe.
Ein Vogelschwarm erhob sich mit rauschendem Flügelschlag, schwang sich durch den blauen Herbsthimmel und ließ sich auf den Dächern der umliegenden Häuser nieder. Nicht anders stiegen die schrillen Rufe der Straßenhändler, Marktschreier und Fuhrleute aus dem vielstimmigen Brausen der Menge.
Im Torgewölbe fing sich der Lärm, brach sich an den Wänden und vermischte sich mit dem dumpfen Rumpeln der Wagenräder und dem Geschrei der Neuankömmlinge. Ein durchdringender
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