AvaNinian – Erstes Buch (German Edition)
Mutter.
Sie war eine überaus schöne Frau, mit der Gabe gesegnet, jeden Mann für sich zu gewinnen, wenn sie es wünschte. Unzählige Liebschaften wurden ihr nachgesagt, aber genau wie Eyra hatte sie sich nie gebunden. Viele Frauen und Mädchen holten sich Rat und Hilfe bei ihr, sie war bewandert in allen Liebesdingen und ihr Blick war scharf. Ava ging ihr tunlichst aus dem Weg.
Bei ihrem Eintritt verstummten die Frauen und blickten ihr entgegen, jede auf ihre Weise, die Mutter bekümmert, Eyra missbilligend und Lalun belustigt. Ava runzelte die Brauen, es war nicht schwer zu erraten, worüber die drei gesprochen hatten.
»Ich habe Neela gesehen«, sagte sie schnell, »sie ist ganz erfüllt davon, dass du sie in die Berge schicken willst, Mutter.«
Das Gesicht der Fürstin erhellte sich, wie immer, wenn sie von ihren Weberinnen sprach. »Ja, ich hoffe, dass sie angenommen wird. Denkt nur, was für eine Ehre, wenn sie zur Mondenweberin aufsteigen würde oder wer weiß, vielleicht noch weiter.«
»Warum verschwendest du deine Zeit mit Hoffen?«, ließ sich Eyra vernehmen. »Wenn es in ihrem Schicksal liegt, wird es geschehen. Viele bedeutende Weberinnen stammen aus unserem Volk. Das Mädchen erscheint mir allerdings recht schwach.«
Sie erhob sich und umarmte die Fürstin kühl. Während sie zur Tür schritt, warf sie Ava einen dunklen Blick zu.
»Ich erwarte dich bei mir, Avaninian. Ich habe mit dir zu reden.« Ohne Avas zorniges Auffahren zu beachten, verließ sie den Raum.
»Mutter, warum tut sie das? Sie weiß, dass ich den Namen nicht hören mag.«
»Eben deshalb«, antwortete Lalun liebenswürdig, »und da es nun einmal dein Name ist, kannst du es ihr nicht verwehren. Aber lass dich anschauen.«
Sie glitt vom Diwan und ging mit wiegenden Hüften um Ava herum.
»Man sieht ja gar nichts von dir, Kind, in dieser unkleidsamen Jacke«, meinte sie kopfschüttelnd. »Dabei hat sich deine Gestalt sehr hübsch entwickelt als du fort warst. Ich hatte immer gefürchtet, du würdest allzu knabenhaft, aber nein, du bist wohlgeformt. Doch was nützen die hübschen Formen, wenn man sie versteckt? Du solltest sie nicht so herumlaufen lassen, Elenor. Wenn etwa ein Brautwerber käme ... du sagtest doch selbst, wie reizend ihr meine weiße Robe stand und hat sie nicht Wirkung gezeigt?«
Sie zupfte an Avas Kleidern, hob mit spitzen Fingern den schlichten Zopf und rümpfte die zierliche Nase, ohne sich um die schmalen Lippen und böse funkelnden Augen ihrer Nichte zu kümmern. Die Fürstin bemerkte die Sturmzeichen. Sie nahm ihre Schwester sanft bei den Schultern und küsste sie auf die Wange.
»Sei nicht so streng mit ihr, sie ist doch noch ein halbes Kind. Sei nett und lass uns ein wenig allein.« Sie schob Lalun eilig zur Tür hinaus, aber diese hatte wie immer das letzte Wort.
»Ein halbes Kind? Schwester, du träumst«, zwitscherte sie, bevor sich die Tür hinter ihr schloss.
Ava war weiß vor Zorn.
»Sie sind beide unerträglich!«, rief sie heftig, »was geht sie mein Aussehen an? Ich bin doch kein Preisvieh, das man geschmückt zur Schau stellen muss! Und von Brautwerbern will ich nichts hören, das habe ich schon gesagt. ,Wirkung zeigen'«, wütend ahmte sie Laluns süßes Lispeln nach, »ich will auf niemanden wirken, ich brauche keine hundert Männer wie sie. Und die andere, ,ich habe dir etwas zu sagen' – kein ,Bitte', kein ,Danke', sie gängelt uns alle und außerdem«, sie blieb mit geballten Fäusten vor der Mutter stehen, »außerdem bin ich kein halbes Kind!«
Die Fürstin blickte ruhig in das zornige Gesicht.
»Dann benimm dich auch nicht so, Ava«, sagte sie strenger, als es ihre Art war. »Es gibt keinen Grund, mich anzuschreien. Über meine Schwestern brauchst du mir nichts zu erzählen.«
Ava senkte den Kopf. »Verzeih mir, Mutter«, murmelte sie. Plötzlich stiegen ihr Tränen in die Augen und sie ließ sich widerstandslos zum Diwan führen. Die Fürstin setzte sich neben sie und nahm ihre Hand.
»Was ist nur los mit dir? Seit du zurück bist, hast du dich so verändert, dass wir dich kaum erkennen. Zuerst dachten wir, es sei die Umstellung. Aber es scheint, als fühlst du dich nicht mehr wohl bei uns, als wären wir dir in diesen drei Jahren fremd geworden.«
Ava schwieg. Die Empfindungen der Mutter kamen der Wahrheit so nahe, dass sie nicht wagte, ihr in die Augen zu sehen.
»Du begleitest den Vater und lässt dir die Regierungsgeschäfte zeigen, du besuchst die Webschule und
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