AvaNinian – Erstes Buch (German Edition)
verbergen.
Die Befriedigung über die Bezwingung der Stadtmauer hielt nicht lange vor und Jermyns Unruhe nahm zu. Sie trieb ihn auf die großen Plätze hinaus, wo er versuchte, Klatsch und Gerüchte über die Castlerea zu erfahren. Immer noch glaubte er, den Schlüssel zum Raub des Brautschatzes im Inneren des Hauses zu finden. Doch schien es, als bestünde der tugendhafte Ruf der alten Adelsfamilie zu Recht – man spottete zwar über die altväterlichen Sitten des Ratsherrn und seiner Gattin, aber Jermyn hörte nicht den Hauch eines Skandals.
Am 12. Tag des Weidemondes, am Tag der Ahnen, ruhte alle Arbeit. Man gedachte der Verstorbenen und Jermyn mischte sich unter die Scharen von Schaulustigen, die den Zug der Edlen zum Tempel Aller Götter begafften. Eine nach der anderen zogen die vornehmen Familien, reichgekleidet zu Pferde und in Sänften vorüber. Die Zuschauer bekundeten ihre Gefühle durch Klatschen und Pfeifen, zu jedem Tross, der vorbeikam, hatten sie etwas zu sagen.
Der Patriarch war mit seinem Gefolge schon im Tempel verschwunden, als Jermyn sich bis zu dem ehrwürdigen Gebäude hindurchgekämpft hatte. Neben den mächtigen Säulen vor dem Eingang sah er die beiden Männer, denen er an der Brückentreppe begegnet war. Der eine – Duquesne, der Bastard, wie Wag ihn genannt hatte, schwarz gekleidet und barhäuptig – ließ seinen Blick aufmerksam über die Köpfe der Menge schweifen.
Jermyn zog die Kapuze des Gollers über die auffälligen roten Stacheln, die er sich von LaPrixa hatte drehen lassen. Er legte keinen Wert darauf, sich dem überheblichen Stadthauptmann in Erinnerung zu bringen. Im Gedränge hörte er Leute schwatzen.
»Schau nur, Duquesne. Wie er den Wachhund für den Patriarchen spielt!«
»Ja, er gibt die Hoffnung nicht auf. Aber es ist kein Wunder, wenn man bedenkt, was Donovan für eine Enttäuschung für den Alten ist.«
»Ist er schon zurück von seiner Reise?«
Die Menge schob die Sprecher außer Hörweite und so erfuhr Jermyn nicht, ob Donovan in der Stadt war. Er war nicht sicher, ob er überhaupt etwas von ihm hören wollte. Der Name allein reichte, um ihn in Wut zu versetzen.
Duquesne sprach mit seinem Begleiter, der die schlichte, blaurote Uniform der Stadtwächter trug. Er hatte derbe, gewöhnliche Züge, aber eine schwarze Schärpe quer über der Brust zeichnete ihn als Offizier aus.
»Castlerea, Castlerea ...«
Laute Rufe stiegen aus der Menge auf und Jermyn vergaß den Bastard. Er drängte weiter nach vorne, um einen guten Blick auf den Besitzer des sagenhaften Schatzes und seine Gemahlin zu werfen.
Beide waren betagt und auf strenge, altmodische Art gekleidet. Die Dame trug einen Schleier, der ihren Kopf umhüllte und nur ein hageres, hochmütiges Gesicht mit bitter herabgezogenen Mundwinkeln freiließ. Sie blickte starr geradeaus und beachtete die lärmende Menge nicht. Der Ehrenwerte Castlerea dagegen bemühte sich, eine wohlwollende Miene zu zeigen, ab und zu neigte er dankend den Kopf. Die Sorgen der letzten Wochen hatten ihm sichtlich zugesetzt und einmal hob er eine durchsichtige Hand an die Stirn, als habe er Schmerzen.
»Castlerea ... ruft den Schutz der Ahnen herab für Castlerea!«
Die Leute schienen Mitleid mit dem alten Mann zu haben, der Ruf wurde von der Menge aufgenommen und schwoll mächtig an, während die Familie vorbeizog. Der Edelmann nickte steif, seine Frau aber verzog keine Miene und das Geschrei verebbte so schnell wie es gekommen war. Dafür begann ein Rempeln und Raunen, weit stärker als es dem alten Ehepaar gegolten hatte.
»Seht nur, Sabeena ... Sabeena Castlerea, die Braut ...«
Jermyn reckte sich und verfluchte seine geringe Größe. Mit den Ellenbogen kämpfte er sich zu einem der eisernen Pfähle durch, an denen die großen Laternen hingen, die abends den weiten Platz erleuchteten. Er schwang sich auf den steinernen Sockel, umschlang den Pfahl und hatte so einen guten Blick auf die ein wenig schäbige Sänfte, die jetzt heranschwebte.
Sabeena Castlerea saß mit niedergeschlagenen Augen in den fadenscheinigen Polstern und nach der Greisenhaftigkeit ihrer Eltern überraschte Jermyn die Jugend des unglücklichen Mädchens. Sie war sehr blass, aber sie errötete peinvoll unter dem kunstvoll frisierten, blonden Haar, als derbe, mitfühlende Rufe aus der Menge der Gaffer ertönten.
»Kopp hoch, Schätzken, dä Artos werd dich schon nich sitzen lasse ...«
»Jou, die Klunkerchen wern schon wieda auftauchn ...«
»Komms schon
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