AvaNinian – Zweites Buch
fremde Sprache beigebracht, nachdem der Patron sie aus dem Dunkel zurückgerufen hatte. Am Anfang war ihr diese Geborgenheit genug gewesen, aber in letzter Zeit war ihr darin eng geworden und seit der Begegnung mit Kwaheri war der Wunsch nach Freiheit mächtig in ihr gewachsen.
Jermyn hatte recht, Kamante war kein Kind mehr.
Wag aber hatte sich ganz unerwartet in der Vaterrolle gefunden und er bewachte seinen Schützling mit der Eifersucht und Sorge eines ehrbaren Bürgers.
So gab es nur eins: sie musste ihn und damit auch Ninian und Jermyn täuschen, um mit ihrem Liebsten zusammen zu sein. Auf dem Fischmarkt kannte man sie nicht, hier fielen sie nicht auf, denn am Hafen sah man häufig Schwarzhäutige. Sie würden über die Wilden Nächte sprechen, die heute begannen, wo es so viele Möglichkeiten gab, sich zu vergnügen, wenn sie es nur geschickt anstellten.
Kamante trat unter die Arkaden, die in die Markthallen führten.
Kwaheri stand an eine Säule gelehnt und sie sprang geradewegs in seine Arme.
2. Kapitel
8./9. Tag des Saatmondes 1465 p.DC
Beginn der Ersten Nacht
Die Wilden Nächte - sie beendeten die Herrschaft des Winters, mit ihnen kehrte das sprießende Leben zurück und sie erinnerten an die Zeiten, bevor die Menschen geschieden wurden in Hoch und Niedrig, Herrschendeund Untertanen. Aber man gedachte auch der Dunklen Götter - Herrscher über alles Finstere und Zerstörerische im menschlichen Herzen, immer bekämpft von den Lichten Kräften und in die Finsternis verbannt, damit sie die Welt nicht in das Chaos stürzten, aus dem sie geboren war. Einmal im Jahr aber durften sie sich erheben und ihren Tribut fordern.
Drei Tage, auf die alle Bewohner Deas seit Wochen hinfieberten, verwandelten die Große Stadt in einen einzigen Jahrmarkt, wo derbe Allotria getrieben und mit Freunden getafelt wurde. Man machte sich Geschenke, ernstgemeinte und alberne, man zog durch die Straßen, die Gewalten waren außer Kraft gesetzt: ungestraft verweigerten Diener den Gehorsam, widersetzten sich die Kinder ihren Eltern. Die Nächte jedoch, die drei Wilden Nächte, stürzten die Stadt in einen rauschhaften Taumel der Triebe und Leidenschaften.
Dieses Fest, berühmt, berüchtigt und heiß ersehnt, verabscheute Duquesne aus tiefster Seele. Durch das Schmettern der Fanfaren aufgeschreckt, scheute sein Pferd. Er zügelte es mit strenger Hand und blickte finster auf die schier unübersehbare Menge, die den Platz vor dem Tempel Aller Götter füllte.
Ungewohnte Stille hing über den Häuptern; alles Volk sah mit gespannter Aufmerksamkeit auf die mächtigen Bronzetore des uralten Tempels. Sie warteten: Wenn die Sonne nach den Berechnungen der Priester ihren Lauf vollendet hatte und hinter dem Horizont verschwunden war, sank, durch einen verborgenen Mechanismus bewegt, die goldene Scheibe über dem Portal. Jeden Abend geschah das und gewöhnlich scherte sich niemand darum. Heute aber war es das Zeichen für die Schließung der Tore und den Beginn der Wilden Nächte.
Auf der anderen Seite der Treppe stand Thybalt. Auch er sah wie gebannt zu der Scheibe hinauf, aber als er Duquesnes strengen Blick auf sich spürte, wandte er sich eilig wieder der Menge zu.
Blau-rot gewandete Stadtwächter mit aufgepflanzten Hellebarden hielten einen Halbkreis vor den Stufen des Tempels frei, andere eine Gasse in der Mitte der Tempelstraße. In der Menge verstreut blinkten Helme und Lanzenspitzen, an denen die blauroten Bänder im kalten Wind flatterten.
Ihre Anwesenheit beruhigte Duquesne durchaus nicht. Noch war die Menge friedlich, die meisten ehrbare Bürgersleute, feierlich gestimmt und nüchtern. Der Tanz begann langsam, war er erst in voller Fahrt, würde ihn auch die dreifache Zahl an Wachleuten nicht aufhalten.
Eine Bewegung ging durch die Versammelten - aus dem Halbdunkel des Tempels blinkte es golden und mit gemessenen Schritten trat der Hohe Priester, gefolgt von den anderen Dienern des Heiligtums, vor das Tor. Bis über die Ohren reichte der steife Kragen des Untergewandes und der von Goldfäden starrende Mantel schimmerte düster in der Dämmerung. Einen Augenblick standen die Tempeldiener schweigend, dann zog der Hohe Priester die Hände aus den weiten Ärmeln. Die Menge stöhnte.
Die Sonnenscheibe war verschwunden.
Der Hohe Priester hob die Arme und langsam, langsam setzten sich die gewaltigen Bronzeflügel in Bewegung. Auf dem Platz war es wieder still geworden - wie das Atemholen des Meeres vor einem gewaltigen Sturm
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