Ave Maria - Roman
das nicht. Das ist das große Rätsel, richtig?«
Genau das war die Frage, die ich mir schon mehrmals gestellt hatte. Die Professorin beantwortete sie nicht, aber sie bestätigte mir, dass diese Frage gestellt werden musste.
Plötzlich lachte sie nervös. »Ich hoffe, Sie räumen meiner Beurteilung bei Ihren Ermittlungen keine übermäßige Bedeutung ein. Es wäre schrecklich für mich, wenn ich Sie in die Irre geleitet hätte. Dazu ist dieser Fall zu wichtig.«
»Machen Sie sich deshalb keine Sorgen«, versicherte ich ihr. »Das ist nur einer der Faktoren, die wir in Betracht ziehen. Es ist ein unglaublich schwieriges Puzzle. Psychologisch, analytisch und literarisch.«
»Es muss für Sie grauenvoll sein, überall herumzulaufen, um diese Krumen von Informationen zu sammeln. Für mich wäre es das.«
»Ehrlich gesagt, ist diese Art der Befragung hier der leichte Teil meiner Arbeit.« Ich meinte das auch wirklich ehrlich.
Meine nächste Verabredung wurde übel.
44
Bewaffnete Sicherheitsleute hielten mich am Tor zum Besitz der Lowenstein-Bells in Bel Air in Beverly Hills auf. Zwei weitere private Wächter am oberen Teil der Einfahrt überprüften meine Ausweise nochmals. Endlich gewährte man mir die Erlaubnis, mich dem Haus zu nähern, das an einer sich schlängelnden Stra ße vom Bel Air Hotel lag. Dieses hatte ich schon mal besucht. Für mich war es einer der schönsten und heitersten Orte, die ich je gesehen habe.
Ich klingelte. Michael Bell öffnete mir persönlich. Das Haus schien hauptsächlich aus Glas zu bestehen. Ich sah ihn schon von weitem, ehe er die Tür erreichte. Seine langsamen schlurfenden Schritte sprachen Bände.
Es ist immer ein Drahtseilakt, mit Familienmitgliedern zu sprechen, die nach einem Mord zurückgeblieben sind. Der Zeitpunkt, an dem man am dringlichsten Informationen brauchte, war der, an dem sie am wenigsten darüber sprechen wollten, was geschehen war. Ich habe keine Methode gefunden, bei der ich mich gut gefühlt hätte oder die Person, die ich befragen musste.
Mr Bell sah mit seinem buschigen blonden Bart, Jeans, Sandalen und ausgeblichenem karierten Hemd eigentlich nicht wie ein typischer Bewohner von Beverly Hills aus. Für mich hätte er Holzfäller oder ein Ex-Mitglied von Nirvana oder Pearl Jam sein können. Und das in dieser ultramodernen Umgebung. Ich wusste aus der Akte, dass er das Haus mit seiner Frau erst vor wenigen Jahren gebaut hatte.
Michael Bells Art und Stimme wirkten leicht benommen,
wie so oft bei Menschen in der Anfangsphase der Trauer. Aber er bat mich höflich einzutreten. »Kann ich Ihnen etwas anbieten?«, fragte er. »Ich weiß, wir haben Eistee. Oder Sonnentee, Agent Cross?«
»Nichts, vielen Dank«, sagte ich.
Die nicht mehr ganz junge Haushälterin oder Kinderfrau stand in der Nähe, um wenn nötig zu helfen. Das war wohl Lupe San Remo, die den Leichnam im Swimmingpool gefunden hatte.
»Nada, Lupe, gracias«, sagte ihr Mr Bell. »Quisiéramos cenar a las siete, por favor.«
Ich folgte ihnen durch eine offene Galerie, wo drei blonde Mädchen mit Zöpfen sich in einem riesigen Polstersessel aneinander gekuschelt hatten. Cassie, Anna und Zoey, laut der Akte im Alter von fünf, sieben und acht. Ein Standbild aus Finding Nemo war starr auf einem großen Plasmafernseher zu sehen.
Ich hatte gestört. Das tat mir Leid. Ich fragte mich, ob »Mary Smith« für die Kinder der Opfer wirklich etwas empfand. Und wenn ja - warum? Welches Motiv konnte diese irrsinnige Person haben? Warum die Mutter dieser kleinen Kinder töten?
»Mädels, ich bin ein paar Minuten im Wohnzimmer. Ihr könnt ohne mich weiterschauen.« Er drückte auf einen Knopf der Fernbedienung und stellte den Ton laut, als der Film weiterlief. Ich erkannte Ellen DeGeneres’ Stimme. Wahrscheinlich, weil ich Nemo ein Dutzend Mal mit Jannie gesehen hatte. Sie liebte Dorry unendlich.
»Hier können wir uns unterhalten«, sagte Mr Bell, als wir das große Wohnzimmer betraten. Drei Stockwerke Glaswände boten einen atemberaubend schönen Blick auf die Küste und auf den Swimmingpool, wo seine Frau Marti aufgefunden
worden war. Michael Bell setzte sich mit dem Rücken zum Pool auf ein cremefarbenes Samtsofa.
»Ich habe diese Aussicht geliebt«, sagte er. »Marti auch.«
»Würden Sie lieber woanders mit mir sprechen?«, fragte ich ihn ganz direkt.
»Danke«, sagte er. »Nein, ist schon in Ordnung. Ich bemühe mich, so normal wie möglich weiterzumachen. Für die Mädchen. Und um nicht den
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