Ave Maria - Roman
kurz nach der Ermordung von Alicia Pitts war sie Geschichte. Am gleichen Abend erklärte Polizeichef Shrewbury, dass er jetzt persönlich die Leitung der Ermittlungen für die Morde des Hollywood Stalkers übernehmen werde und dass Detective Galletta vorübergehend vom Dienst befreit sei, bis der Mord an der unglücklichen jungen Frau aus Las Vegas, die einen dunkelblauen Geländewagen gefahren hatte, geklärt sei.
Jeanne war untröstlich, aber man gab ihr an allem die Schuld und machte sie zum Opferlamm. »Der Bürgermeister von Las Vegas redet mit dem Bürgermeister von L.A. und fordert ihn auf, dem Polizeichef zu sagen, wie er die Ermittlungen durchzuführen hat!«, beschwerte sie sich bei mir. »Seit wann übernehmen Politiker Polizeiarbeit?«
»Seit Urzeiten schon«, sagte ich.
Wir hatten uns am selben Abend um zwanzig Uhr auf einen Drink verabredet. Sie hatte den Treffpunkt ausgesucht. Sie wollte sichergehen, dass ich von ihr alles über die Ermittlungen hätte, was ich brauchte. Selbstverständlich wollte sie auch Dampf ablassen.
»Ich weiß, Alicia Pitts geht auf mein Konto, aber -«
»Jeanne, stopp! Du bist nicht dafür verantwortlich, was
mit dieser Frau geschehen ist. Es könnte ein Resultat einer Entscheidung sein, die du gefällt hast, aber das ist nicht dasselbe. Du hast nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt. Der Rest ist Politik. Man hätte dir den Fall nicht entziehen dürfen.«
Mehrere Sekunden lang sagte sie nichts. »Ich weiß nicht«, meinte sie schließlich. »Das arme Mädchen ist tot.«
»Hast du noch Resturlaub?«, fragte ich sie. »Vielleicht könntest du den jetzt nehmen.«
»Ja, klar, ich soll wohl morgen die Stadt verlassen, oder?«, sagte sie. »Man hat mir den Fall entzogen, aber -«
Sie beendete den Satz nicht, brauchte sie auch nicht. Ich war in ihrer Lage gewesen. Es ist besser, nicht laut zu sagen, dass man die Regeln brechen würde. Einfach losziehen und brechen.
»Alex, ich muss dranbleiben«, sagte sie. »Deshalb wollte ich dich hier treffen.«
»Das verstehe ich völlig. Du weißt ja, wie du mich erreichen kannst«, sagte ich.
Endlich lächelte Jeanne. »Du bist wirklich ein guter Kerl«, meinte sie. »Für einen vom FBI.«
»Du bist auch okay für eine Polizistin vom LAPD.«
Dann legte sie ihre Hand auf meine, zog sie aber sogleich wieder zurück.
»Irgendwie peinlich«, sagte sie. »Tut mir Leid, wenn ich mich bekloppt benehme.«
»Du bist ein Mensch, Jeanne. Das ist etwas ganz anderes, oder? Deshalb würde ich mich nicht entschuldigen.«
»In Ordnung, ich werde mich nicht mehr entschuldigen. Ich muss aber gehen, ehe ich losheule oder sonst etwas furchtbar Peinliches tue. Du weißt ja, wie du mich erreichen kannst, wenn nötig.«
Dann stand Jeanne auf und ging zur Tür. Doch ehe sie diese erreichte, drehte sie sich um. »Ich bin nicht weg von diesem Fall. Ich bleibe dran.«
70
Seltsam.
Als ich an diesem Abend zurück in mein Hotel kam, wartete ein Umschlag auf mich bei der Rezeption.
Er kam von James Truscott.
Ich öffnete ihn auf dem Weg ins Zimmer. Kaum angefangen, konnte ich nicht mehr aufhören, ihn zu lesen.
Thema: Frauen in den Todeszellen Kaliforniens.
Im Moment gab es fünfzehn. Truscott gab von jeder eine Kurzbeschreibung.
Die erste Frau war Cynthia Coffman. 1986 hatte sie mit ihrem Freund vier Frauen beraubt und erwürgt. Man hatte sie 1989 verurteilt, wartete aber immer noch auf die Vollstreckung. Cynthia Coffman war jetzt zweiundvierzig Jahre alt.
Am Ende des langen Berichts sagte Truscott, er plane, einige der Frauen im Gefängnis zu besuchen, und habe nichts dagegen, wenn ich ihn begleiten wollte, falls ich das für hilfreich hielte.
Nachdem ich die Seiten gelesen hatte, blätterte ich sie nochmal durch.
Was war mit James Truscott? Weshalb wollte er unbedingt mein Boswell sein?
Ich wünschte, er würde mich in Ruhe lassen, aber das würde wohl nicht geschehen.
71
Das Telefon in meinem Zimmer weckte mich kurz nach halb drei Uhr morgens. Ich hatte gerade von Klein Alex und Christine geträumt, aber beim ersten Klingeln hatte ich das meiste des Traums schon wieder vergessen.
Mein erster zusammenhängender Gedanke war: James Truscott.
Aber er war es nicht.
Um drei Uhr fuhr ich durch eine mir nicht bekannte Gegend Hollywoods und suchte nach der Hillside Wohnanlage. Bei Tageslicht hätte ich sie schneller gefunden, und meine Gedanken hätten den ganzen Weg über nicht so verrückt gespielt.
Mary Smiths Spiel hatte sich wieder
Weitere Kostenlose Bücher