Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
natürlich auch bedeuten, dass sie nur an ihn dachte, und nicht an ihn und Ofer. Er wusste es nicht.
Aber er nahm sich fest vor, ihr zu antworten.
Ilana rief an, um zu fragen, ob es Neuigkeiten gäbe und wie es ihm gehe. Es gab keine Neuigkeiten, und wie sollte es ihm schon gehen?
»Wenn dieser Fall abgeschlossen ist, nimmst du erst einmal Urlaub«, sagte sie. »Es war wirklich schwer für mich, dich gestern und heute so zu sehen.«
Er sagte nur: »Ja.«
»Du musst nach Hause gehen und schlafen, du bist seit gestern früh auf dem Revier. Weißt du, wie spät es ist?«
Es war mittlerweile halb sechs, früher Abend.
»Es wird nichts mehr passieren, Avi, sie werden nicht anrufen«, meinte Ilana. »Und das heißt, dass du morgen einen langen, anstrengenden Tag haben wirst, auch psychisch. Es wird dir nicht leichtfallen, Ofers Mutter zu vernehmen, also musst du Kraft tanken.«
Er nahm ihren Rat nur an, weil er das immer tat und zu müde war, um noch selbst zu denken. Wieder hielt er auf dem Nachhauseweg vor dem verfluchten Haus in der Straße des Gewerkschaftsbundes, er wurde von ihm angezogen, als wäre es ein Ort der Kindheit, zu dem man zurückkehrt, ohne zu verstehen, warum. In der Wohnung, in der Ofer noch vor wenigen Wochen gelebt hatte, war alles dunkel. Am nächsten Morgen würde er dort mit drei oder vier Polizisten an die Tür klopfen und Rafael und Hannah Sharabi bitten, ihn zu einer dringenden Vernehmung aufs Revier zu begleiten. Weigerten sie sich, würde er den Haftbefehl aus der Tasche ziehen.
Plötzlich entdeckte er Seev Avni, wie er über die Straße ging. Zunächst glaubte Avraham nicht, dass er es wirklich war, dachte, die Müdigkeit würde ihm etwas vorgaukeln. Aber es war Avni, der auf dem Weg zurück zum Haus war, einen Kinderbuggy vor sich herschiebend. Seine Frau ging neben ihm.
Als Avni gegen Morgen ihr Angebot begriffen hatte und zu der Überzeugung gelangt war, dass sie nicht versuchten, ihm irgendeine Straftat anzuhängen, die er nicht begangen hatte, und dass sie den Inhalt des Telefonats nicht gegen ihn verwenden würden, bat er, einige Minuten allein im Verhörraum bleiben zu können, um nachzudenken. Sie warteten auf dem Flur, und als sie ihn gegen die Tür klopfen hörten, traten sie wieder ein.
»Ich werde es tun, obgleich ich mir nicht sicher bin, was hinter Ihrem Angebot steckt.« Avni sah Avraham Avraham unverwandt in die Augen und fügte hinzu: »Mir ist wichtig, dass Sie wissen, ich tue das Ihretwegen, weil ich Ihnen vertraue und weil Sie mich darum bitten. Bis jetzt habe ich Ihre Ermittlungen ja eher behindert, aber wenn Sie mich darum bitten, bin ich bereit zu helfen. Und ich tue es auch für meine Familie. Ich denke, dass meine Frau es sich wünschen würde. Dennoch habe ich das Gefühl, verglichen mit all den Dingen, die ich bis jetzt getan habe und die angeblich nicht in Ordnung waren, ist dies viel schlimmer.«
Jetzt sah er Avni vor dem Hauseingang die Sitzgurte des Buggys lösen, er nahm seinen Sohn auf den Arm und faltete mit der freien Hand den Buggy zusammen. Avraham konnte in der näheren Umgebung keine Beamten in Zivil ausmachen, nahm aber an, dass irgendjemand Avni beschattete.
Niemand konnte ihn hören, als er in seinem Wagen flüsterte: »Auf Wiedersehen, Seev.«
Um elf Uhr abends klingelte sein Mobiltelefon. Er erwachte aus einem unruhigen Schlaf, vollständig bekleidet im Sessel sitzend, vor dem laufenden Fernseher.
Abermals war es Ilana. Sie wollte sich vergewissern, dass alles vorbereitet war.
»Ich bin morgen um halb sieben auf dem Revier«, sagte er. »Um sieben warten wir dann vor dem Haus, bis die Kinder in die Schule und den Kindergarten gebracht wurden.«
»Und tu alles, damit die Sharabis ohne Haftbefehl mitkommen.«
Er schaltete das Licht aus und ging ins Bett.
Am nächsten Morgen um kurz nach sieben, genau drei Wochen nach jenem Mittwoch, an dem die Mutter Avrahams Büro betreten hatte, hielten zwei zivile weiße Polizeiwagen in einiger Entfernung vor dem Haus. Vor dem Lebensmittelladen, etwas weiter die Straße hinunter, stand ein Kühllaster. Der Fahrer lud Ware ab.
Um halb acht trat Hannah Sharabi auf die Straße. Neben ihr ging ein junges Mädchen. Ihr Gang war ungelenk, stockend und schwerfällig. Es war Danit. Avraham sah sie zum ersten Mal. Sie war größer und breiter als ihre Mutter. Ihr Blick war fest auf den Gehweg vor ihr geheftet. Mutter und Tochter warteten einige Minuten vor dem Haus und hielten einander dabei an der
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