Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
Hand. Ein gelber Minibus fuhr heran und bremste, der Fahrer stieg aus und half Danit in den Wagen. Hannah wartete, bis ihre Tochter auf ihrem Platz saß, und winkte ihr zum Abschied.
Um zehn vor acht fuhr Rafael Sharabi den jüngsten Sohn zum Kindergarten. Der Wagen, in dem Schärfstein saß, folgte ihm. Fünfundzwanzig Minuten später war er wieder zu Hause, und kurz darauf klopften sie an seine Tür.
Ein Haftbefehl war nicht nötig.
Rafael Sharabi fragte zwar: »Aber warum holen Sie uns denn ab? Wir haben auf Ihren Anruf gewartet und wären jederzeit gekommen.« Doch die Eltern hatten nichts dagegen, die Polizisten zu einer weiteren Vernehmung aufs Revier zu begleiten.
Begriffen sie, dass diese Vernehmung anders sein würde als die vorherigen Gespräche, zu denen man sie gebeten hatte? Wenn ja, sagten sie zumindest nichts, auch nicht, als die Polizisten sie baten, getrennt voneinander in unterschiedliche Fahrzeuge zu steigen.
Avraham Avraham saß auf dem Beifahrersitz. Die Mutter hinter ihm. Auf der kurzen Strecke wechselten sie kein Wort, und er vermied es, ihr Gesicht im Rückspiegel anzusehen.
Sie brachten die Sharabis durch den Hintereingang ins Revier und führten sie in getrennte Vernehmungsräume.
14
Vor ihm saß eine Mutter. Aber nicht irgendeine.
Drei Wochen zuvor hatte Avraham Avraham versucht, sie loszuwerden; hatte sie gefragt, warum es keine Kriminalromane auf Hebräisch gäbe, und sie hatte nicht verstanden, worauf er hinauswollte. Seitdem hatte er sich geschworen, diese Frage nie wieder zu stellen. Er hatte sie instruiert, auf eigene Faust nach ihrem Sohn zu suchen, obwohl ihr Mann verreist war, auf einem Schiff unterwegs nach Triest. Und noch in derselben Nacht hatte er sein Vorgehen bereut; hatte sie am nächsten Morgen aufs Revier kommen sehen und war erstarrt. Sie hatte wenig gesagt und die Bilder von ihrem Sohn in einer Plastiktüte auf seinen Schreibtisch gelegt. Noch am selben Morgen war er bei ihr in der Wohnung gewesen; hatte versucht, behutsam mit ihr zu reden, jedoch ohne Erfolg. Am nächsten Tag, seinem Geburtstag, hatte er neben ihr im Zimmer ihres vermissten Sohnes auf einem Jugendbettsofa gesessen. Gemeinsam hatten sie seine Schubladen geöffnet.
Aber dies war auch die Mutter, die drei namentlich von ihrem Sohn geschriebene Briefe erhalten und sie mit keinem Wort erwähnt hatte. Die Mutter, der ein anonymer Anrufer mitgeteilt hatte, er wisse, wo Ofer sei, und die dies der Polizei nicht gemeldet hatte.
Wusste Avraham nach den drei Wochen sehr viel mehr über sie als zu Beginn der Ermittlungen?
Sie hatte ihren Militärdienst bei der Marine geleistet, hatte Rafael Sharabi im Alter von einundzwanzig geheiratet und ihn danach manchmal einen Monat oder zwei nicht gesehen, wegen seiner Schiffspassagen, während sie in einem Kindergarten arbeitete. Nach einigen Jahren brachte sie ihren ersten Sohn zur Welt und bald darauf ihre Tochter, die an einer schweren Behinderung litt.
War die Behinderung gleich bei der Geburt der Tochter festgestellt worden oder erst nach einigen Monaten? Heute Morgen hatte er die beiden am Straßenrand stehen sehen, nebeneinander, Hand in Hand, die Tochter einen Kopf größer als ihre Mutter, aber wie gelähmt und kraftlos.
Hannah Sharabi hatte die beiden älteren Kinder allein großgezogen. Ihr Mann war ja auf See gewesen. Und sie hatte dies akzeptiert, weil sie gar keine andere Wahl hatte; sie hatte ihre Arbeit aufgegeben, um ihre Tochter vor der Grausamkeit und der Gleichgültigkeit ihrer Umgebung zu schützen, und sie hatte sich geweigert, die Tochter in eine geschlossene Einrichtung zu geben, auch dann noch, als das Mädchen größer wurde und ihr Mann dies gefordert hatte.
Während der gesamten Ermittlung hatte Avraham den Eindruck gewonnen, Hannah Sharabi würde sich ducken, sich klein machen. Nicht ein einziges Mal war sie laut geworden, hatte nichts von ihm verlangt und niemals Kritik an ihm oder seiner Arbeit geübt. Ihre Weigerung, Danit wegzugeben, war der einzige Beleg dafür, dass sie in der Lage war, sich auch durchzusetzen und nicht nachzugeben. Als ihre Tochter älter wurde, hatte Hannah einen zweiten, gesunden Sohn zur Welt gebracht, vielleicht auch dank der inzwischen verbesserten medizinischen Früherkennungsverfahren.
»Wissen Sie, warum Sie hier sind?«, fragte er. »Warum wir Sie beide zur Vernehmung hergebracht haben?«
Das Gespräch wurde über eine in der Zimmerdecke des Vernehmungsraums installierte Videokamera aufgezeichnet.
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