Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
»Außerdem, meinst du, er wird irgendjemandem davon erzählen?«
Ilana beobachtete einen großgewachsenen Mann, der vor Schärfsteins Fenster über den Parkplatz ging.
Eine Polizeibeamtin kam ins Zimmer und erklärte: »Der Typ, den ihr in den Verhörraum gesteckt habt, hämmert die ganze Zeit an die Tür und ruft nach Avi. Was sollen wir mit ihm machen?«
Avraham Avraham saß in seinem Büro und schaltete das Tonbandgerät ein, um abermals Avnis Anruf bei den Eltern abzuhören. Seev Avni sprach jetzt nur zu ihm: »Ich habe Ofers Briefe in den Briefkasten gesteckt. Ich weiß, wo sich Ofer befindet.«
Wo mochte Avni jetzt sein? Er nahm an, dass sich der Lehrer zu Hause verkrochen hatte. Als sie ihn früh am Morgen vom Revier auf seine Mission geschickt hatten, hatte man ihm gesagt, er sei frei und könne tun und lassen, was er wolle, aber das stimmte nicht ganz. Ilana hatte dafür gesorgt, dass sich ein Observierungsteam an seine Fersen heftete, bis der Fall gelöst wäre.
»Die Tatsache, dass die Eltern Informationen verschwiegen haben, besagt noch nicht, dass sie auch wissen, was Ofer passiert ist«, hatte sie erklärt. »Wir behalten den Lehrer im Auge, bis wir es wissen.«
Bis dahin warteten sie einfach ab. Und jeder von ihnen wartete auf andere Weise. Schärfstein hoffte offenbar, die Eltern würden nicht anrufen, um den anonymen Anruf zu melden, womit sich seine Vermutung bestätigt hätte. Avraham Avraham hörte förmlich, wie die Sekunden verstrichen, eine nach der anderen, und spürte, welche Mühe es ihm bereitete, die Augen offen zu halten. Und Ilana? Ihm war nicht klar, worauf sie wartete.
Er musste die Vernehmung der Eltern vorbereiten, für den Fall, dass sie nicht anriefen und am nächsten Tag auf dem Revier erschienen. Dann musste er sie mit der Tatsache konfrontieren, dass sie offensichtlich Informationen verschwiegen hatten. Er stellte eine Liste der Tage zusammen, an denen die Briefe in ihren Kasten geworfen worden waren, und las die Schreiben dann noch einmal, um Passagen auszuwählen, die er im Verlauf der Vernehmung vorlesen würde. Es gab darin Zeilen, die ihm das Blut in den Adern gefrieren ließen. Schon nicht mehr der Eure, Euer Sohn Ofer.
Sie hatten beschlossen, dass die Eltern, sollten sie sich nicht melden, beide am Vormittag aufs Revier gebracht und dann getrennt voneinander verhört werden würden. Schärfstein würde den Vater vernehmen und Avraham die Mutter. Möglich, dass die Sharabis unzählige Gründe hatten, sich nicht umgehend zu melden. Vielleicht waren sie unschlüssig, wen sie kontaktieren sollten? Oder sie warteten auf den nächsten Anruf, da der anonyme Anrufer versprochen hatte, sich erneut zu melden?
Avraham Avraham versicherte sich immer wieder, dass sein Mobiltelefon angeschaltet und der Empfang gut war. Er lauschte angespannt, damit ihm kein Klingeln entging, das aus dem Foyer oder einem der anderen Büros des Reviers zu hören wäre. Jeden Augenblick konnte die Tür aufgehen. Alles konnte sich noch zum Guten wenden.
Er holte die Unterlagen aus der Ermittlungsakte und breitete sie auf seinem Schreibtisch aus. Die Liste der Gegenstände, die sich in Ofers Rucksack befunden hatten, weckte seine Aufmerksamkeit wie schon beim ersten Mal, als er sie vor zwei Tagen in Ilanas Büro gesehen hatte. Er fand auch die Kopie von Ofers Stundenplan und starrte auf die beiden Schriftstücke. Seine Augen brannten vor Müdigkeit. Er verließ den Raum, um eine weitere Zigarette zu rauchen.
Einige Minuten, nachdem er in sein Zimmer zurückgekehrt war, öffnete er sein E-Mail-Postfach, das er seit dem vorigen Morgen nicht mehr kontrolliert hatte. Er hatte mehr als zwanzig neue Mails erhalten, die meisten davon waren Spams.
Und eine Nachricht von Marianka.
Als er zu lesen begann, klingelte das Telefon auf seinem Schreibtisch und ließ ihn hochschrecken. Am Apparat war irgendjemand von der Staatsanwaltschaft, der nach dem Ermittlungsmaterial im Fall Igor Kintjew fragte. Den hatte er vollkommen vergessen.
Marianka schrieb ihm auf Englisch: Avi, Du hattest versprochen, mich über Deine Ermittlung auf dem Laufenden zu halten, aber seit Du zurück bist, hattest Du bestimmt noch keine Zeit. Habt Ihr den Jungen gefunden? Ich denke viel an das, was Du mir von ihm erzählt hast, und auch an Dich. Ich bin sicher, Du findest ihn, und bete mit Dir, dass ihm nichts zugestoßen ist. Meine Gedanken sind bei Euch. Schreib mir, sobald Du kannst. Marianka.
»My thoughts are with you« konnte
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