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Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst

Titel: Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dror Mishani
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gemächlichem Tempo an Avraham vorüber. Alle nahmen in der Fischmann auf Höhe des Reviers den Fuß vom Gas. Es gab in ganz Cholon keine Straße, in der weniger Unfälle passierten. Er rauchte eine zweite Zigarette. Der Himmel war strahlend blau, ohne ein Wölkchen. Am ersten Abend hatte er Hannah Sharabi dargelegt, was Ofer passiert sein könnte. Hatte gesagt, ihr Sohn habe vielleicht vergessen, für eine Klausur zu lernen, und sei deshalb nicht zur Schule gegangen. Schon am nächsten Tag war klar gewesen, dass etwas anderes passiert war. Avraham erinnerte sich, dass er sich an jenem Abend, auf dem Nachhauseweg, vorgestellt hatte, Ofer wäre allein in einem dunklen, öffentlichen Park, würde seinen schwarzen Rucksack auf eine Bank legen und sich zum Schlafen bereitmachen. War es überhaupt noch angebracht zu hoffen? Oder hätten sie vielleicht beten müssen, wie Marianka geschrieben hatte?
    Auch er kam sofort auf das Telefonat zu sprechen, als er in den Vernehmungsraum zurückkehrte. Wieder mied der Blick der Mutter den seinen, als er sagte: »Sehen Sie, Hannah, ich werde Ihnen erklären, warum es mir schwerfällt zu glauben, dass Sie die Briefe zuvor noch niemals gesehen haben, und warum ich Schwierigkeiten habe, Ihnen zu glauben, wenn Sie sagen, Sie würden mir keine Informationen vorenthalten. Der Grund ist dieser Telefonanruf, den Sie uns auch nicht gemeldet haben.«
    »Welcher Telefonanruf?«, fragte sie sogleich, und etwas in ihrer Stimme klang verändert. Jetzt schaute sie ihn auch an, und er sah Bestürzung in ihren Augen. Sie legte ihre linke Hand auf den Tisch.
    »Der Anruf, den Sie gestern Morgen erhalten haben. Sie wissen, wovon ich spreche?«
    Sie tat so, als müsste sie nachdenken. Schließlich sagte sie: »Ja.«
    »Und können Sie mir erklären, warum Sie den nicht gemeldet haben?«
    Hannah Sharabi antwortete nicht.
    Er fragte: »Können Sie mir sagen, worum es bei diesem Telefonat ging?«
    »Irgendjemand hat behauptet, dass er Ofer kennt. Und dass er später noch mal anruft, um uns zu sagen, wo er ist.«
    Er entschied sich, eine gute Minute lang zu schweigen; damit sie selbst die Tragweite ihres Geständnisses begreifen konnte. Die dann folgenden Sätze stieß er mit zunehmend lauter werdender Stimme hervor, die am Ende in regelrechtes Schreien umschlug, ein Schreien, in dem echte, nicht gespielte Wut und Empörung lagen. »Wir suchen Ihren Sohn seit drei Wochen, ich weiß nicht wie viele Beamte drehen jeden Stein um, ich selbst gehe mit Ofer Sharabi im Kopf schlafen und wache morgens mit ihm auf, und Sie bekommen einen Anruf von jemandem, der Ihnen sagt, er wüsste, wo sich Ofer befindet, und melden ihn nicht. Sie sitzen hier und machen mir weiterhin etwas vor, sagen mir, Sie hätten mir alles mitgeteilt, was Sie wissen. Haben Sie vollkommen den Verstand verloren? Davon abgesehen, dass Sie das Leben Ihres Sohnes gefährden – begreifen Sie, dass Ihr Verhalten ein schwerwiegendes Vergehen ist? Haben Sie schon einmal von Behinderung polizeilicher Ermittlungen gehört? Wissen Sie, dass ich Sie beide ohne weiteres festnehmen kann?«
    Er hatte erwartet, dass sie ihm nicht antworten würde.
    Wütend sprang er von seinem Stuhl auf und begann, in dem schmalen Raum auf und ab zu gehen, von einer Wand zur anderen, hin und her. Seine Stimme hatte er wieder gesenkt, er flüsterte beinahe und war sich nicht einmal sicher, dass sie ihn hörte: »Nichts, was Sie jetzt sagen, wird das erklären. Nichts. Aber dennoch, ich bitte Sie, versuchen Sie es mir zu erklären. Warum haben Sie den Anruf nicht gemeldet?«
    Das Auf- und Abgehen im Raum erfüllte seinen Zweck. Hannah Sharabi folgte mit den Augen seinen Bewegungen, und so konnte er ihren Blick auffangen. Zum ersten Mal sah er Angst darin. Was ihm beinahe leid tat. Er überlegte, ob er erneut den Verhörraum verlassen sollte, ausgerechnet in diesem Augenblick, damit sie sich sammeln konnte. Auch sie wirkte, als hätte sie seit drei Wochen nicht mehr geschlafen. Rafael Sharabi hatte ihm bei seiner Vernehmung erzählt, seine Frau plagten nachts Albträume. Die kleine Handtasche, die sie am ersten Abend und auch am darauffolgenden Tag bei sich gehabt hatte, hatte Avraham nie wieder gesehen, als wäre Hannah Sharabi von dem Moment an, da ihr Gatte zurückgekehrt war, nicht mehr auf ein eigenes Portemonnaie, Schlüssel oder ein Mobiltelefon angewiesen.
    »Wir haben nicht geglaubt, dass er Ofer kennt. Haben gedacht, jemand belästigt uns, ein Irrer«, sagte sie leise.

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