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Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst

Titel: Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dror Mishani
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Sie wiederholte Schärfsteins Ausdruck, als hätte sie ihrerseits auch die Gespräche des Ermittlerteams abgehört.
    »Ich glaube Ihnen nicht«, erwiderte er und ging weiter durch den Raum, jetzt in immer engeren Kreisen um den Tisch und um sie herum, sodass er teilweise hinter ihrem Rücken sprach. »Ich glaube nicht, dass eine Mutter, deren Sohn seit drei Wochen vermisst wird, so einen Anruf nicht ernst nimmt. So etwas gibt es nicht. Eine solche Mutter existiert nicht. Denn Sie hätten mich lediglich anrufen müssen und mir sagen: ›Irgendein Irrer hat bei uns angerufen und behauptet, er kennt Ofer, machen Sie damit, was Sie wollen.‹ Er hat angekündigt, er würde am Abend wieder anrufen und Ihnen mitteilen, wo sich Ofer befindet, richtig? Und wenn er nun tatsächlich etwas weiß? Wir hätten das Gespräch orten und ihn uns schnappen können. Kennen Sie eine Mutter auf der Welt, die eine solche Chance vertan hätte?«
    »Er hat doch nicht angerufen«, erwiderte sie.
    »Aber das wussten Sie am Vormittag noch nicht«, platzte es aus ihm heraus. »Niemand hat das gewusst. Was soll ich denn von Ihnen annehmen? Entweder, dass Sie geistig beschränkt sind, aber richtig beschränkt, falls Sie der Meinung waren, Sie müssten den Anruf nicht melden, oder dass es Sie nicht interessiert, was Ofer passiert ist. Oder aber Sie wissen, was mit ihm geschehen ist, weshalb Ihnen der Anruf unwichtig erschien. Wofür entscheiden Sie sich? Welche Möglichkeit, meinen Sie, trifft zu?«

    Fünf Minuten wartete er im alten Vernehmungsraum am Ende des Flurs auf Schärfstein, der jedoch nicht kam.
    Sie hatten vereinbart, sich alle halbe Stunde zu treffen, außer ihre Vernehmung befände sich in einer kritischen Phase. Es war vier Minuten nach zehn. War Rafael Sharabi bereits zusammengebrochen, wie Schärfstein prophezeit hatte? Und wenn ja, was war unter den Trümmern zum Vorschein gekommen?
    Avrahams Nerven waren angespannt wie noch bei keiner Ermittlung zuvor, ja wie noch nie. Auch wegen seiner Müdigkeit. Vielleicht hätte er doch Ilanas Angebot annehmen und sie die Vernehmung von Hannah Sharabi führen lassen sollen?
    Er bat die diensthabende Beamtin, sie solle Schärfstein, wenn sie ihn auf dem Flur sähe, ausrichten, er sei draußen. Dann steckte er sich noch eine Zigarette an und setzte sich auf die Eingangsstufen zum Revier. Und noch immer war er unschlüssig, wie er Hannah Sharabi das vorhalten sollte, was ihn seit dem gestrigen Nachmittag umtrieb. Er war jetzt an dem Punkt des Verhörs angelangt, an dem er, seiner Strategie nach, auf das zu sprechen kommen würde, was keiner wusste. Schärfstein nicht und auch nicht Ilana. Und er musste dies fragen, nicht um sie zu brechen, sondern damit sie ihm eine Antwort gab, die ihn befriedigte.
    Seinen Wutausbruch bedauerte er. Hannah Sharabi hatte ihn mit einem scheuen, hasserfüllten Blick bedacht, als er den Raum verließ und die Tür hinter sich zuzog.
    Auf dem Videoband registrierte er später das Zögern und die Unsicherheit in seinen Schritten, als er in den Verhörraum zurückkam, und die Bedächtigkeit, mit der er seinen Stuhl hinter dem Tisch hervorzog und an seinen neuen Platz stellte, an die Schmalseite, auf Flüsterdistanz zu ihr. Jetzt waren sie einander so nah, wie sie es gewesen waren, als sie auf Ofers Bett gesessen hatten.
    »Was wollen Sie von mir?«, fragte sie.
    »Nur noch eine Sache. Danach können Sie gehen.« Wie gern hätte er das geglaubt. »Ich möchte noch ein Problem mit Ihnen besprechen, das mir im Zusammenhang mit Ofers Verschwinden keine Ruhe lässt, in Ordnung? Sie haben von Anfang an gesagt, Ofer habe am Mittwoch um Viertel vor acht das Haus verlassen und sich auf den Weg zur Schule gemacht. Stimmt das?«
    »Ja.«
    »Und Sie sind sicher, dass er zur Schule wollte? Sie haben damals nicht gewusst und wissen auch jetzt nicht, dass er andere Pläne hatte?«
    »Ich hab Ihnen doch gesagt: nein.«
    Sah er einen Funken Hoffnung in ihren Augen? Vielleicht auch Erleichterung? Nach all den Fragen über die Briefe und den Telefonanruf, den sie verschwiegen hatten, stellte er endlich wieder Fragen zu Ofer. Zu dem Morgen, an dem er verschwunden war. Ihre Wangen zuckten noch immer leicht.
    Er zog den Aktenordner zu sich heran und entnahm ihm ein Blatt.
    »Das ist Ofers Stundenplan. Ich habe ihn aus der Schublade in seinem Zimmer, Sie erinnern sich sicher. Genau genommen haben wir beide ihn dort gefunden. Und gestern Abend habe ich mich bei seiner Klassenlehrerin

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