Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
geraucht. Der Mann habe mit seiner Frau fast zehn Minuten an einem der Nebentische gesessen. Der junge Mann sei ihm bekannt vorgekommen, aber er habe sich nicht erinnern können, woher, weshalb er ihn aufmerksam beobachtet habe, bis der Jugendliche aufgestanden und gegangen sei. Erst später, auf der Weiterfahrt, sei ihm eingefallen, dass er am Nachmittag ein Foto des Jugendlichen auf der Vermisstenseite der Polizei im Internet gesehen hatte.
Avraham Avraham fragte den Anrufer nicht, warum er im Internet ausgerechnet die Vermisstenseite der Polizei las.
»Hatte er zufällig einen schwarzen Rucksack dabei?«
»Einen schwarzen Rucksack?«
»Ja, haben Sie vielleicht gesehen, ob er einen schwarzen Rucksack bei sich trug?«
»Ich erinnere mich nicht an einen Rucksack.«
»Und wissen Sie noch, was er anhatte?«
»Äh, nein, nicht so genau. Vielleicht ein weißes T-Shirt? Meine Frau wird das wissen.«
»Könnten Sie zur Polizei in Ashdod kommen, um eine genauere Aussage zu machen?«, fragte Avraham Avraham.
Der Mann erwiderte: »Nach Ashdod? Wir wohnen eigentlich in Modiin. Wir waren unterwegs zu einer Hochzeit.«
»Dann eben zur Polizeistation in Modiin?«
»Am Freitag? Ist denn dort heute überhaupt jemand? Lässt sich das nicht am Telefon erledigen?«
»Ich hätte gern, dass Sie sich ein paar Bilder ansehen, aber Sie können auch zu Wochenbeginn kommen.« Es war ohnehin klar, dass der Anrufer keine weiteren Informationen hatte. Aber wenn er Ofer tatsächlich gesehen haben sollte und ihn eindeutig identifizieren könnte, dann wäre dies immerhin ein Lebenszeichen.
Sonderbar, dass das Gebäude, zu dem er am späten Vormittag fuhr, schon fast eine Art Zuhause für ihn geworden war. Er stellte den Wagen wie am Vortag vor dem Eingang ab, aber diesmal auf der anderen Straßenseite. Das Haus war einer dieser schmucklosen Kästen, errichtet in den fünfziger oder sechziger Jahren, die irgendwann renoviert worden waren und dennoch verwahrlost wirkten. Wie ein Schiff, das, auf ein Riff gelaufen, in der Sonne vor sich hin rostete. Auf einigen Balkonen wehten Plastikfähnchen im Wind, Überbleibsel des Unabhängigkeitstags vor einer Woche. In dem Haus hatte Avraham Avraham fast einen ganzen Tag verbracht, und obgleich er sich nicht bemüht hatte, Details wahrzunehmen, hatte sich ihm manches eingeprägt.
Die Eingangstür war verschlossen, er drückte den Knopf der Gegensprechanlage, doch es kam keine Antwort. Plötzlich fiel ihm auf, dass ihn die Familie, seit er sie gestern Nacht verlassen hatte, nicht mehr angerufen hatte. War etwa keiner zu Hause? Er wartete noch einen Moment und klingelte dann bei der Nachbarin aus dem ersten Stock.
Gemeinsam stiegen sie nach oben in die dritte Etage und klopften. Die Nachbarin rief: »Hannah, die Polizei ist hier«, und Ofers Mutter öffnete. Sie sagte, sie habe das Klingeln nicht gehört, und auch Avraham Avraham war sich nicht mehr sicher, ob er tatsächlich geklingelt hatte.
Die Mutter war allein in der Wohnung. Alles war aufgeräumt und sauber. Die Nachbarin war enttäuscht, als Avraham Avraham sie bat, ihn mit der Mutter allein zu lassen. Aber auf diesen Augenblick hatte er gewartet, und er wusste nicht, wie viel Zeit ihm bliebe, bis sich erneut Verwandte in der Wohnung einfinden würden.
Sie saßen an einem kleinen Tresen, der die Küche und die Essecke vom Wohnzimmer trennte. Die Mutter trug frische Kleidung, und ihr Haar war noch feucht. Avraham willigte ein, einen Kaffee zu trinken, schwarz und mit einem Löffel Zucker, und sie plazierte ein Tellerchen mit Butterkeksen neben seiner Tasse.
»Gibt es etwas Neues? Haben Sie irgendetwas gehört?«, fragte er und bereute es sogleich. Sie hätte ihn fragen müssen, ob es etwas Neues gab, woraufhin er sie über den Stand der Dinge hätte unterrichten sollen – nicht umgekehrt. Er musste sie davon überzeugen, dass sie alles Notwendige taten. Dass er die Ermittlungen im Griff hatte. Und vielleicht auch sich selbst.
Sie schüttelte den Kopf.
»Wo sind denn alle?«
»Mir war der Lärm zu viel. Am Nachmittag werden sie aber bestimmt wiederkommen.«
Er versuchte, förmlich zu klingen, obgleich es ihm so vorkam, als würden sie sich schon lange kennen.
»Ich bin gekommen, um Sie über den Fortgang der Ermittlung in Kenntnis zu setzen und Ihnen weitere Fragen zu stellen.«
»In Ordnung.«
»Wir operieren im Augenblick auf mehreren Ermittlungsebenen gleichzeitig, und zwar seit gestern Mittag. Zum einen sind erste Hinweise
Weitere Kostenlose Bücher