Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
weder mit mir noch mit seinem Vater …«
Er unterbrach sie: »Surft er im Internet?«
»Er sitz viel am Computer. Ich weiß nicht, was er dort macht.«
»Hat er eine Freundin?«
Sie zögerte, bevor sie antwortete: »Nein, ich glaub nicht, dass er was mit Mädchen hat.«
»Was will er in der Armee machen?«
»Darüber haben wir nicht geredet, obwohl er schon seinen Bescheid gekriegt hat. Was soll er in der Armee machen können? Er ist kein Junge mit vielen Freunden.«
»Denken Sie, er hat Angst vor der Armee? Hat er darüber gesprochen?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht hat er Angst.«
Unmöglich, dass sie rein gar nichts über ihren Sohn weiß, dachte er. Es kann doch nicht sein, dass dieser Junge, der bald die elfte Klasse beendet hat, nichts getan hat, was bei einer Aussage erwähnenswert wäre, nie etwas gesagt, mit niemanden über irgendetwas gesprochen hat. Und dennoch hatten ihm in den letzten vierundzwanzig Stunden alle genau das weismachen wollen.
»Kann ich sein Zimmer noch einmal sehen?«
Sie stand auf, und er folgte ihr zu dem Zimmer, das er am Vortag bereits einige Male betreten hatte. Sie blieb auf der Schwelle stehen.
Es war nicht eines dieser Jugendzimmer, die man in der Werbung zu sehen bekam, sondern eine zufällige Ansammlung von Möbelstücken ohne jede Verbindung. Die Sonnenblenden waren geschlossen, und der Raum lag im Dunkeln. Es hatte niemand dort in der vergangenen Nacht geschlafen. Avraham Avraham machte das Licht an. Die Wand rechts von der Tür wurde von einem großen, mit mausgrauer Folie beklebten Schrank eingenommen. Oben war ein Basketballkorb aus Plastik angebracht und unter dem braunen Jugendbett sah Avraham Avraham den dazugehörigen orangefarbenen Schaumstoffball liegen. An der Wand der Tür gegenüber hingen zwei Poster über dem Bett, das Plakat eines Harry-Potter-Films und das Foto eines jungen Mannes, den er nicht kannte. Beide Poster wirkten schon älter, waren vielleicht vor zwei oder drei Jahren aufgehängt worden. Links vom Bett stand ein schwarz furnierter Schreibtisch, darüber vier Borde, nicht eben überladen, darauf Schulbücher, Hefte, Wörterbücher, einige Verpackungen von Computerspielen, ein Wecker und ein paar Jugendromane. Auf dem Tisch selbst stand eine Schreibtischlampe. Es herrschte mustergültige, für einen Jugendlichen untypische Ordnung. Neben der Lampe stand ein Computerbildschirm – ein schwarzer Flachbildschirm – und davor lag eine silberne Maus, die an nichts angeschlossen war, weil sie den Computer zur Durchsuchung mitgenommen hatten. Die Sachen des jüngeren Bruders, des Fünfjährigen, fielen zwar stärker ins Auge, waren aber ebenfalls nicht besonders zahlreich, dachte er. In der rechten Zimmerecke, neben dem Kinderbett, stand ein niedriges Regal mit Spielzeugautos, Büchern und Stofftieren. Außerdem lagen noch einige Spielsachen auf dem Boden verstreut, vor dem Bett und darunter. Wenigstens waren sie bunt.
Avraham Avraham setzte sich auf Ofers Bett. Die Mutter stand noch immer in der Tür, doch als er, nachdem er sie um Erlaubnis gebeten hatte, begann, die Schubladen des kleinen Schränkchens unter dem Schreibtisch zu öffnen, kam sie und setzte sich ebenfalls, wenn auch in einiger Entfernung zu ihm. Sie roch gut, frisch gewaschen.
In der ersten Schublade fanden sich ein alter Discman, der aussah, als wäre er schon lange nicht mehr benutzt worden, Batterien, Lineale, ein Zirkel, ein Ladegerät für ein Mobiltelefon, ein leeres Lederportemonnaie und Schlüssel. In der zweiten Schublade waren Zeugnisse und Dokumente, eine Versicherungskarte der Maccabi-Krankenkasse, der Bescheid, den Ofer von der Musterungsstelle bekommen hatte, und ein ausgedruckter Stundenplan. In der dritten Schublade, der größten, lagen Hefte und Klausuren, allem Anschein nach aus den letzten Jahren.
Avraham nahm den Stundenplan aus der zweiten Schublade und den Schlüsselbund aus der ersten und schob alle Schubladen wieder zu. Wenn Ofer am Mittwoch in der Schule gewesen wäre, hätte er bis um zehn Uhr Algebra gehabt. Danach Englisch, Soziologie und Literatur. Und eine Stunde Sport.
»Ofers Personalausweis ist nicht hier. Trägt er ihn normalerweise bei sich?«, fragte er.
»Ich weiß nicht. Aber er hat einen Personalausweis.«
»Und wie sieht es mit einem Pass aus?«
»Sein Pass ist abgelaufen. Ich glaube, mein Mann hat ihn.«
Der Schlüsselbund lag in seiner Hand, als wollte er dessen Gewicht abschätzen. »Ist das der Haustürschlüssel? Er hat
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