Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
von Personen bei uns eingegangen, die Ofer gesehen haben oder behaupten, ihn gesehen zu haben, und deren Angaben wir nun überprüfen. Ich war heute Morgen auf dem Revier und habe schon einige Recherchen angestellt.« Er rang mit sich, ob er ihr von dem Anruf aus Ashdod erzählen sollte, oder genauer gesagt aus Modiin. »In sehr vielen Fällen führen uns solche zufälligen Hinweise in die richtige Richtung. Sollten wir, zum Beispiel, drei Anrufe von Leuten erhalten, die Ofer in Eilat gesehen haben, könnten wir mit einem hohen Maß an Gewissheit davon ausgehen, dass er in Eilat ist. Noch aber haben wir keine verlässlichen Informationen. Auf der zweiten Ermittlungsebene befragen wir Ofers Freunde, nehmen seinen Computer genauer unter die Lupe und versuchen, alle möglichen Hinweise zu finden. Ein Ermittlerteam hat sich gestern damit beschäftigt und wird seine Arbeit auch am Wochenende fortsetzen. Anzunehmen ist, dass sie etwas finden, denn jede Aktion hinterlässt Spuren, und erst recht ein vorbereitetes Abenteuer wie das Weglaufen von zu Hause. Auf dritter Ebene koordinieren unsere Beamten in der Zentrale sämtliche Informationen und haben Anweisung, alle relevanten Hinweise an mich weiterzuleiten.«
»Also suchen Sie gar nicht nach ihm? Mit Polizisten?«
»All diese Maßnahmen werden von Polizeibeamten geleistet, Verehrteste. Aber wenn Sie großangelegte Suchaktionen meinen, dann lautet die Antwort: Nein. Noch wissen wir nicht, wo wir suchen sollten.« Beinahe hätte er ihr gesagt, dass es unmöglich war, Polizisten loszuschicken, die durch die Straßen liefen und »Ofer, Ofer, komm nach Hause, deine Mama wartet auf dich« riefen. Aber er ließ es bleiben. »Ich würde gern mit Ofers Geschwistern sprechen. Wo sind sie jetzt gerade? Ich habe sie gestern auch nicht gesehen«, sagte er stattdessen.
»Sie sind bei den Eltern meines Mannes. In Ramat Gan.«
»Weshalb?«
»Ich kann mich jetzt nicht ganz allein um sie kümmern, ich hab keine Kraft dazu. Anfang nächster Woche hol ich sie vielleicht zurück.« Plötzlich brach sie in Tränen aus, vielleicht wegen des Gedankens an die bevorstehende Woche und daran, dass das Wochenende ohne Ofer verstreichen würde. Ihr Schluchzen war leise und erstickt wie das Jaulen eines Hundes, den man ausgesperrt hat und der versucht, ins Haus zu kommen.
»Und wie stehen Sie mit Ihrem Mann in Verbindung?«
»Heute hab ich noch nicht mit ihm gesprochen. Er redet mit Jossi, seinem Bruder. Der hält ihn auf dem Laufenden. Anfang nächster Woche kommt er zurück.«
Avraham Avraham wartete, dass sie sich beruhigte.
»Ich weiß, dass ich Ihnen diese Frage bereits mehrfach gestellt habe«, sagte er dann, »aber vielleicht hatten Sie ja Zeit, noch einmal darüber nachzudenken: Sind Sie sicher, dass nichts vorgefallen ist, was Sie mit Ofers Weglaufen in Verbindung bringen können? Oder hat er vielleicht einen Freund außerhalb der Schule, der etwas wissen könnte?«
Warum hatte er die Frage so formuliert, als verstünde es sich von selbst, dass Ofer von zu Hause weggelaufen war?
»Ich hab Ihnen alles gesagt. Sie haben die Namen von allen, die er kennt.«
»Sehen Sie, Verehrteste, ich versuche Ihnen zu erklären, warum ich noch einmal auf diesen Sachverhalt zu sprechen komme. Es ist wenig plausibel, dass ein Junge in seinem Alter ohne Hilfe anderer von zu Hause wegläuft. Er hat keine Kreditkarte und, wie Sie uns gestern gesagt haben, auch kein Bargeld. Außerdem hat er sein Mobiltelefon nicht bei sich. Allein kann er nicht weit kommen, ohne jemanden, der ihm vielleicht Geld gegeben hat, oder jemanden, der ihm einen Platz zum Schlafen organisiert.«
Glaubte er an das, was er da sagte, oder wollte er vor allem ein beruhigendes Bild zeichnen, in dem Ofer unter einem festen Dach schlief und nicht allein auf sich gestellt war?
»Wissen Sie, ob er jemanden in Ashdod kennt?«, fragte er.
»Ashdod?« Sie überlegte. »Er war oft dort, mit seinem Vater, im Hafen. Aber wir haben keine Familienmitglieder dort. Warum Ashdod?«
»Ich sondiere nur.« Und unvermittelt sagte er: »Erzählen Sie mir noch etwas über Ofer.«
Sie sah auf. Überlegte einen Moment. Vielleicht, wie sie anfangen sollte.
»Ich hab Ihnen gestern schon gesagt, er ist ein guter Schüler, er hat den humanistisch-theoretischen Schwerpunkt gewählt. Er geht nicht aus, hat nicht viele Freunde. Geht zur Schule, kommt nach Hause, spielt mit seiner Schwester und mit seinem Bruder, hilft viel im Haushalt. Er spricht nicht viel,
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