Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
dass er nicht zurückkommen würde, war das Zimmer als Abstellraum genutzt worden, ehe es in den letzten Jahren, seit sein Vater nach dem Schlaganfall aus dem Krankenhaus zurückgekommen war, von ihm benutzt wurde. Sie hatten eine Klimaanlage einbauen lassen und schliefen in getrennten Räumen, nicht nur wegen der unterschiedlichen Temperaturvorlieben.
Avraham Avraham nahm am Tisch Platz und legte seine Zigaretten und sein Mobiltelefon neben den Teller.
»Rauchst du immer noch?«, fragte seine Mutter sofort. »Kein Wunder, dass du dich nicht gut fühlst.«
Und er erwiderte: »Ich fühle mich ganz in Ordnung.«
»Hast du die Blumen bekommen?«
»Ja, danke. Die sind heute früh gekommen.«
»Und warum hast du dann nichts gesagt? Weißt du, dass ich mittags bei denen angerufen hab, um mich zu beschweren, dass der Bote noch nicht da war? Gut möglich, dass sie dir noch einen Strauß geschickt haben. Dann hast du eben zwei. Aber der erste ist sicher schon verwelkt, weil du ihn bestimmt nicht ins Wasser gestellt hast.«
Sein Vater kam zurück und trug jetzt ein braunes Sweatshirt über dem weißen Unterhemd. Die Hose hatte er nicht gewechselt.
Danach folgte die übliche Unterhaltung. Seine Mutter stellte ihm Fragen zu seinem Leben, und er drückte sich um die Antworten.
»Habt ihr schon von dem Wirrwarr bei der Polizei gehört?«, sagte er schließlich.
Und seine Mutter antwortete: »Ja, schrecklich. Ich würde mich schämen, dort zu arbeiten. Sag mal, haben bei euch alle was mit jungen Polizistinnen, alle außer dir, meine ich? Kein Wunder, dass die Sicherheit in diesem Staat vor die Hunde geht.«
Sie holte eine bereits geöffnete Flasche Weißwein aus dem Kühlschrank, und sie stießen an und wünschten ihm alles Gute, abermals mit denselben Worten: Gesundheit und viel Erfolg. Sein Vater wirkte zusehends mehr und mehr abwesend und in sich gekehrt. Das kam seit dem Schlaganfall häufig vor, trotz seiner Genesung, die die Ärzte aufs höchste erstaunt hatte. Er verlor die Konzentration, geriet durcheinander, redete zusammenhanglos, um schließlich, als wäre er sich seines Abbaus bewusst, fast gänzlich zu verstummen und sich ganz auf seinen Teller zu konzentrieren, den er wie in Zeitlupe leerte. Sie warteten, dass er mit der Suppe fertig wurde. Das Einzige, was ihn aus seiner Lethargie zu reißen vermochte, war ein Gespräch über den Iran und die Wahrscheinlichkeit, dass dieser schon bald den Großraum Tel Aviv bombardieren würde.
Avraham Avrahams Laune wurde immer schlechter. Seine Mutter stellte den Hauptgang auf den Tisch, den sie zu Ehren seines Geburtstags zubereitet hatte – gebratene Geflügelleber mit Zwiebeln, Püree und pikanten Tomatensalat. Ihre Fragen hörte er schon nicht mehr. Kaute mechanisch und schlang sein Essen hinunter.
Was den Einfluss seiner Eltern auf seine Berufswahl anging, hatte er zwei Theorien, die eine bezog sich auf seine Mutter, die andere auf seinen Vater. Die erste besagte, dass er schon als Kind zum Detektiv geworden war, weil er jedes Mal, wenn er von der Schule nach Hause gekommen war, versuchte hatte, Hinweise auf die Stimmungslage seiner Mutter zu entdecken. Dabei hatte er eine ausgeprägte Sensibilität für äußere Anzeichen entwickelt, für Gesichtsausdrücke oder Modulationen des Tonfalls. Schon im Treppenhaus hatte er sich bemüht zu erschnuppern, was sie gekocht hatte, um zu wissen, ob das Mittagessen mit Prügeln enden würde. Hatte sie ein Gericht zubereitet, das er mochte, ging die Mahlzeit in der Regel glimpflich über die Bühne. Gab es hingegen ein Gericht, das er, aus Gründen, die er selbst nicht verstand, kaum herunterbekam, dann folgte ein böses Ende. Roch es zum Beispiel nach gefüllten Paprika oder Kohl im Treppenhaus, sprach alles für eine gehörige Tracht Prügel.
Der zweiten Theorie zufolge war er auf den Ausflügen mit seinem Vater zum Detektiv geworden, vor allem bei den Spaziergängen am Sabbat. Sie hatten ein Spiel, das sein Vater erfunden hatte. Sein Vater sagte: »Ich glaube, ich sehe eine Frau im blauen Mantel.« Und der kleine Avraham Avraham, drei oder vier Jahre alt, suchte mit dem Blick aufgeregt die Straße ab, bis er sie gefunden hatte und auf sie zeigte. Das Spiel wurde raffinierter, je älter er wurde. Sein Vater sagte etwa: »Ich denke, ich sehe einen Mann, der zu spät zu einer Verabredung kommt.« Avraham Avraham sah sich um, bis er einen unrasierten Mann ausmachte, der bei Rot die Straße überquerte, und zeigte auf diesen.
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