Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
Sein Vater, der ihn an der Hand hielt, bestätigte: »Exakt.« Und der kleine Avraham war glücklich.
Nach einer Weile brach er das Schweigen und fragte seinen Vater: »Wie fühlst du dich?« Aber sein Vater hörte seine Frage nicht.
»Shlomo, Avi fragt, wie du dich fühlst«, mischte sich seine Mutter ein. »Was hast du denn, hörst du auch schon nicht mehr?«
Als sie fertig waren mit dem Essen und seine Mutter die Teller in die Geschirrspülmaschine räumte, klingelte sein Mobiltelefon.
»Inspektor Avraham?«
»Ja.« Er verließ die Küche.
»Hier ist Lital Levi vom Revier.« Sie war eine junge Kollegin, die erst vor ein paar Monaten ihre Ausbildung abgeschlossen und auf seiner Polizeiwache angefangen hatte. »Sie sind doch verantwortlich für den Vermisstenfall, der gestern aufgenommen wurde, oder?«
»Ofer Sharabi, ja.«
»Ja, genau. Sharabi. Wir haben gerade einen anonymen Anruf bekommen, der eventuell überprüft werden müsste.«
»Könnten Sie etwas genauer werden? Haben Sie den Anruf entgegengenommen?«
Er hoffte, dass sie das Erschrecken in seiner Stimme nicht bemerkt hatte.
»Das Telefonat dauerte nur wenige Sekunden, und ich hab den Anrufer nicht genau verstanden, aber er hat irgendwas davon gesagt, dass wir Sharabi in den Dünen hinter H300 suchen müssen. Er hat gesagt, dort liege die Leiche.«
4
Am Ende war ausgerechnet er es, der mit Verspätung zu der Suchaktion stieß. Und noch dazu ohne Michal. Anfangs fühlte Seev sich fremd und unbehaglich unter den Suchenden, die ohne ihn gar nicht dort gewesen wären.
Am Morgen war er als Erster aufgewacht. Ilay schlief noch. Michal ebenfalls. Auf dem Balkon warf er einen Blick durch die Sonnenblenden. Tag drei schon. Draußen waren keinerlei Vorbereitungen erkennbar. Weder im Gebäude noch auf der Straße. Zwei alte Männer schlurften über den Gehweg. In der Hand hielten sie blaue Samtfutterale mit ihren Gebetsmänteln. Seev wusste nicht einmal, wo in der Nähe eine Synagoge war.
Der Sabbat war ihr Tag, oder genauer gesagt der seine. Ihr Tag, um richtig auszuschlafen, und seiner, um mit Ilay aufzustehen. Jede Minute, die der Kleine noch schlief, war ein gestohlenes, süßes Geschenk. Die Euphorie war gewaltig. Er hatte noch nicht verdaut, was in den letzten Tagen mit ihm passiert war. Er hatte getan, was er nicht für möglich gehalten hatte, tun zu können, ehe er es getan hatte. Sonderbare, widersprüchliche Gefühle durchmischten sich mit unbekanntem Machtempfinden in ihm. Er war so übervoll von Scham und Stolz, dass er meinte, platzen zu müssen.
Als das Wasser im Wasserkocher siedete und der Kocher zu zittern begann, wachte Ilay auf. Wie immer. Aus der Küche lauschte er auf das Weinen des Jungen. Machte ihm dann sein Milchfläschchen und sich selbst einen Becher Tee mit Zitronenscheibe und braunem Zucker. Er hob Ilay aus dem Bett. Überrascht und noch schlaftrunken beäugte der Kleine seinen Vater. Sie sagten dem gefleckten Stoffhund guten Morgen, dem Schaukelpferd und dem Fisch, der in dem winzigen Aquarium von einer Seite zur anderen flitzte. Dann trug Seev den kleinen, warmen Körper ins Wohnzimmer, setzte sich in den Schaukelstuhl und gab ihm das Fläschchen zu trinken. Sein Tee wurde kalt.
Wenig später brachen sie zu einem Spaziergang mit dem Buggy auf.
Die Stadt war wie verlassen. Er wählte seine feste Route, die Straße des Gewerkschaftsbundes hinunter, dann nach rechts in die Schenker und weiter bis zur Sokolow. Zu den Dünen zu gehen verkniff er sich.
Den Roman »Am Strand« hatte er mitgenommen für den Fall, dass Ilay im Buggy einschlafen würde, was er aber nicht tat. Aber er hätte es wohl ohnehin nicht fertiggebracht, etwas zu lesen.
Als sie noch in Tel Aviv wohnten, bevor Ilay geboren wurde, war Seev immer am Sabbatmorgen in ein Café aufgebrochen, in der Regel eines an der Dizengoff, mit einem Buch oder mit Notizblock und Stift bewaffnet. Heilige Stunden. Beinahe die einzigen Stunden, in denen er nicht Lehrer an einem Gymnasium war, in denen er alles andere sein konnte, all das, was er wirklich sein wollte. Und seit Donnerstag war er von neuem ein anderer, stand wieder kurz davor zu schreiben, nach mehr als einem Jahr des Nichts.
Michal war wach, als sie zurückkehrten. Sie trug ihren Morgenmantel, trank Kaffee in der Küche und aß einen Toast mit Butter und Pflaumenmarmelade. »Wie war’s?«, fragte sie. Dann fiel ihr etwas ein und sie sagte: »Der Nachbar war vorhin da. Sie organisieren eine Gruppe, um bei
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