Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
hergezogen, vorher haben wir in Tel Aviv gewohnt, und ich arbeite dort auch immer noch, aber ich denke, ich habe Ofer in den Monaten, in denen ich ihn unterrichtet habe, ganz gut kennengelernt.«
Inspektor Avraham machte mit der Hand irgendein Zeichen, und die Polizistin verstaute den Cordhosenfetzen in einem großen, schwarzen Plastikbeutel.
Seev hörte sie sagen: »Was soll’s. Wenigstens säubern wir so die Dünen. Ein echter Naturschutzverein sind wir geworden.«
Nachdem sie sich verabschiedet hatten, kehrte er nicht zu den Helfern zurück. Er verspürte eine gewisse Befriedigung über die Fülle von Details, die er erfahren hatte, doch sie vermischte sich mit Verbitterung und Enttäuschung über das zu kurze Gespräch mit Avraham. In seiner Vorstellung hatte er sie in einer anregenden Unterhaltung gesehen, in der sie Informationen und sogar Ideen austauschten. Jetzt wollte er nur noch nach Hause und bedauerte, dass er ohne den Motorroller gekommen war.
Auf dem Rückweg spürte er, wie sich wachsende Beklemmung in ihm breitmachte. Anfangs wusste er nicht, warum. Etwa weil er mit einem Mal die Schwere seiner Tat begriff oder wegen Avrahams Ungeduld und der Tatsache, dass er ihn nicht wiedererkannt hatte, als er sich vorstellte? Er hoffte, nicht umsonst telefoniert zu haben. Trotz allem hatte er den Eindruck, dass Avraham ihm für einen Moment zugehört hatte und dass er tatsächlich vorhatte, ihn zu einem weiteren Gespräch über Ofer einzubestellen.
Und dann begriff er.
Spürte, wie seine Beine zitterten. Meinte, wie erstarrt stehen geblieben zu sein, dabei hatte er unwillkürlich seine Schritte beschleunigt.
Bei einer der Fragen, die er Inspektor Avraham gestellt hatte, hatte er wie nebenbei darauf verwiesen, dass die Polizei die Information, derentwegen die Suchaktion gestartet worden war, durch einen Telefonanruf erhalten hatte, obgleich Avraham nichts dergleichen erwähnt hatte. Vielleicht würde er sein Wissen damit begründen können, dass er einen Polizisten oder vielleicht einen Verwandten Ofers etwas Entsprechendes hatte sagen hören.
Seev konnte sich später nicht daran erinnern, wie er nach Hause gekommen war. Er hoffte, Michal würde da sein, aber als er die Tür aufschloss, war die Wohnung leer. Er legte sich im Schlafzimmer aufs Bett und schloss fest die Augen, wie Kinder es machen.
Er war sicher, dass die Polizei jeden Augenblick an seine Tür klopfen würde.
5
Die Klinke an der Tür zu Ilanas Zimmer herunterzudrücken gehörte zu den Augenblicken, die Avraham Avraham bei seiner Arbeit am meisten liebte. Einen Moment lang befand er sich noch im Gebäude des Hauptkommissariats von Tel Aviv, und im nächsten Augenblick, wenn sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, war er an einem anderen Ort. Zu Hause. Manchmal, wenn Ilana wusste, dass er auf dem Weg zu ihr war, erwartete sie ihn bereits an der Tür.
Nicht, dass sich das Zimmer im zweiten Stock des neuen Gebäudes an der Salame-Straße besonders von anderen Polizeibüros unterschieden hätte. In der Mitte des Raums thronte ein wuchtiger Tisch aus dunklem Holz mit einem Flachbildschirm darauf. An den Wänden hingen gerahmte Zeugnisse und Ehrenurkunden neben Bildern des Staatspräsidenten und des Premierministers. Auf einem großen, in seiner Schönheit und seinem Farbenrausch berückenden Foto war die Lions Gate Bridge in Vancouver bei Sonnenuntergang zu sehen – Ilana war als Gesandte einige Jahre dort gewesen, zusammen mit ihrer Familie, und behauptetet immer, etwas von ihr sei »in dieser eisigen Stadt geblieben und nicht nach Israel zurückgekehrt«. Zwei kleinere Aufnahmen zeigten Ilana selbst, einmal zusammen mit dem ehemaligen Präsidenten des Obersten Gerichtshofes, Aharon Barak, und auf dem anderen, das vor vielen Jahren gemacht worden war, mit der Sängerin Yardena Arasi. Damals war Ilana noch jung gewesen, und ihr Haar war lang und braun, ohne die grauen Strähnen, wie er sie kannte. Auf dem Schreibtisch stand das wertvollste Bild von allen, in einem schwarzen Rahmen. Ein Familienfoto, das zu Füßen der Basilika Sacré-Cœur de Montmatre in Paris aufgenommen worden war, während einer Reise vor der Einberufung von Ilanas ältestem Sohn Amir. In der Bildmitte überragte er seine beiden jüngeren Brüder und seine Schwester, stand hochaufgeschossen da wie sein Vater und seine Mutter, die ihn von beiden Seiten im Arm hielten. Amir lachte in die Kamera. Einige Monate später kam er bei einem Manöverunfall ums Leben.
Ilana
Weitere Kostenlose Bücher