Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
steht, und ich denke nicht, dass er allzu viel Gelegenheit gehabt haben dürfte, sich pornografische Inhalte anzuschauen. Ich habe unsere IT -Fachleute auch gebeten zu prüfen, ob Seiten von Reiseveranstaltern oder Reiseagenturen aufgerufen wurden, aber sie haben nichts gefunden. Das Verlaufsprotokoll der Internetaktivitäten weist im Wesentlichen Computerspiele und Spieleseiten auf. Auch die Familienmitglieder, Freunde und Nachbarn wussten nichts von einer möglichen Flucht des Vermissten. Ebenso wenig liegen uns Aussagen über emotionale Störungen oder Verhaltensauffälligkeiten von Ofer Sharabi vor. Wir wissen hingegen, dass der Vermisste nach Streitigkeiten mit seinen Eltern in der Vergangenheit bereits zweimal von zu Hause weggelaufen ist. Zwar jedes Mal nur für einige Stunden, aber vielleicht deutet dies doch auf einen weiteren Ausreißversuch hin. Der Vermisste steht vor dem Abschluss der elften Klasse und ist an der Kogel-Schule ein ziemlich guter Schüler. Er gilt als ruhig. Nicht sehr beliebt, aber ohne Probleme in der Klassengemeinschaft. Es gibt keine Aussagen, dass er von anderen Schülern misshandelt oder gemobbt worden wäre. Und es existieren auch keine Informationen, die den Vermissten mit kriminellen Aktivitäten in Verbindung bringen, ich weiß nicht, ob ich das schon erwähnt habe.«
Avraham blickte von seinen Aufzeichnungen auf und sah Ilana an. Sie seufzte.
Unzählige Male schon hatten sie in den letzten vier Jahren, seit Ilana die Leitung im Ermittlungs- und Nachrichtendezernat des Distrikts Tel Aviv übertragen worden war, in diesem Zimmer gesessen. Endlose Stunden waren sie wieder und wieder Einzelheiten durchgegangen, hatten sich gegenseitig laut Passagen aus Vernehmungsprotokollen vorgelesen, hatten die Aussagen auf die eine Art gelesen und im nächsten Augenblick auf eine ganz andere, hatten Fakt an Fakt gefügt in dem Versuch, einen Tathergang zu rekonstruieren. Wenn Ermittlungen, die anfangs unweigerlich in eine Sackgasse zu führen schienen, am Ende doch erfolgreich abgeschlossen worden waren, dann war der Durchbruch hier, in diesem Raum, gelungen und nur dank ihrer Gespräche.
»Kurzum, wir haben nicht den geringsten Anhaltspunkt«, sagte Eliyahu Maalul.
»Nein. Obwohl ich glaube, dass wir es mit einem Ausreißversuch zu tun haben, der vielleicht, warum auch immer, schiefgegangen ist. Oder, im schlimmsten Fall, mit Selbstmord.«
»Wieso das?«
Avraham zögerte einen Moment angesichts der sanften Augen Maaluls. Dann antwortete er: »Hauptsächlich, weil der Vermisste keine kriminelle Vergangenheit hat und weil es kein Indiz gibt, das ihn mit einer kriminellen Handlung in Verbindung bringen würde. Aber auch aufgrund der übereinstimmenden Aussagen über den Vermissten und weil es in dieser Familie irgendetwas gibt, das genau zu benennen mir noch schwerfällt. Ofer Sharabi scheint ein Junge zu sein, der so gut wie keine Freunde hat, der extrem introvertiert ist und seine Eltern nicht an seinem Leben teilhaben lässt. Meiner Erfahrung nach sind das Verhaltensmuster, die auf einen Ausbruchsversuch oder einen Selbstmord hindeuten können, gibst du mir recht?«
»Kann sein«, sagte Maalul.
Ilana fragte: »Und was meinst du damit, der Ausreißversuch sei schiefgegangen?«
»Dass der Junge womöglich vorgehabt hat, für einen Tag oder ein paar Stunden zu verschwinden, aber in eine Lage geraten ist, die ihn daran hindert zurückzukommen. Ich weiß es wirklich nicht.«
»Ich bin anderer Meinung«, sagte Schärfstein.
Ilana und Maalul sahen ihn an und Ilana fragte: »Warum?«
»Weil ich nicht glaube, dass eine Junge von … Wie alt ist er? Fünfzehn? Sechzehn?«
»Sechzehneinhalb«, erwiderte Avraham Avraham.
»Ich glaube nicht, dass ein Junge von sechzehneinhalb Jahren einfach verschwindet, ohne Spuren zu hinterlassen, die wir in drei Tagen Ermittlungsarbeit nicht finden können, auch wenn dies sicher nicht die aufwendigste Ermittlung der Welt ist. Er muss einfach irgendwo sichtbar werden. Zum Beispiel muss er Geld abheben, bevor oder nachdem er untergetaucht ist, oder? Und selbst wenn er versehentlich in irgendetwas hineingeraten ist, müssten wir doch dahinterkommen. Und weißt du was? Auch wenn er sich umbringen will, ohne dass jemand davon weiß, muss er es doch irgendwie anstellen wollen, oder? Muss jemandem eine Pistole klauen oder Tabletten aus dem Arzneimittelschrank seiner Eltern stibitzen, ein Messer aus der Küche nehmen – was weiß ich. Außerdem, jemand, der sich
Weitere Kostenlose Bücher