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Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst

Titel: Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dror Mishani
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sie eine behinderte Tochter haben.«
    Avraham verstand nicht, was Maalul meinte. »Wer?«, hakte er nach.
    »Die Eltern. Ich habe von dem Freund erfahren, dass Ofer eine Schwester mit Downsyndrom hat.«
    Davon hatte auch Avraham nichts gewusst. Er zögerte, das Maalul gegenüber offen einzugestehen. Seit Freitag hatte er sich immer wieder gesagt, er müsse der Geschichte lauschen und alle Beteiligten kennenlernen, aber nun waren fünf Ermittlungstage verstrichen, und nicht einmal dieser Umstand, der mit Sicherheit von großer Bedeutung für Ofers Leben war, war ihm bekannt.
    »Ich wusste nicht, dass sie am Downsyndrom leidet. Ich habe sie noch nicht gesehen. Aber das erklärt, warum die Mutter in dieser Situation nicht auch noch die Kinder bei sich haben konnte. Die Großeltern haben Ofers Geschwister am Mittwoch oder Donnerstag zu sich geholt.«
    »Und es erklärt auch, warum Ofer immer so verschlossen war. Der Freund hat erzählt, dass er Ofer nie zu Hause besucht hat. Ofer hat ihn nicht ein Mal zu sich eingeladen, was sicher mit der Schwester zusammenhängt.«
    Im Zimmer der Schwester war Avraham nicht gewesen. Weder am Donnerstag noch am Freitag. Er hatte das Gefühl gehabt, Hannah Sharabi wollte, dass ihm dieses Zimmer, dessen Tür geschlossen war, versperrt blieb. Auch das Schlafzimmer der Eltern hatte er nicht betreten. Mit einem Mal fiel ihm ein Umstand wieder ein, der ihn gleich am ersten Abend, nach dem Besuch der Mutter auf dem Revier, auf dem Nachhauseweg beschäftigt hatte: der Altersunterschied zwischen den Kindern. Zwei Jahre nach Ofers Geburt hatte Hannah Sharabi eine Tochter mit Downsyndrom zur Welt gebracht. Danach hatten sie und ihr Mann keine weiteren Kinder gewollt. Fast zehn Jahre lang nicht.
    Er überlegte einen Moment und fragte dann: »Aber hilft uns das weiter?«
    »Es zeigt uns eine Richtung an, oder etwa nicht?«, erwiderte Maalul. »Vielleicht hat das Mädchen, mit dem Ofer ausgehen wollte, einen Freund, dem die ganze Geschichte nicht gefallen hat? Ich meine nur, die Chancen, dass er von zu Hause weggelaufen ist, schwinden. Oder kannst du dir vorstellen, dass er, zwei Tage bevor er zum ersten Mal in seinem Leben mit einem Mädchen ausgehen wird, beschließt abzuhauen? Aber wer weiß, vielleicht hat er dem Mädchen auch irgendetwas erzählt. Vielleicht hat er sogar nach Mittwoch noch Kontakt zu ihr gehabt. Gut möglich, dass sie der Mensch ist, den wir gesucht haben. Der Mensch, mit dem Ofer in Verbindung steht und von dem wir noch nichts wussten.«
    »Und sie hat niemandem etwas davon erzählt?«
    »Hör zu, Avi, ich weiß es noch nicht. Ich bin auf dem Weg zu ihr und werde dich auf den neuesten Stand bringen, sobald ich mit ihr gesprochen habe.«
    Fünf Tage – und er hatte nichts gewusst, weder von dem Mädchen, mit dem Ofer ausgehen wollte, noch von der Schwester. Kein Zweifel, dass die Entscheidung, Maalul mit ins Team zu holen, richtig gewesen war. Avraham verspürte große Lust, in sein Büro zurückzukehren und aus dem Vater alles über Ofer und dessen Leben herauszuholen, was der wusste, auch wenn das eine Weile dauern und ihr Gespräch erst spät in der Nacht beendet sein würde.

    Rafael Sharabi überraschte ihn. Sein Körperbau, die Stimmlage. Und auch was er sagte. Vielleicht weil Avraham wusste, dass Ofers Vater Seemann und Mitglied im Betriebsrat von ZIM war, hatte er einen massigen, ungeschlachten und lautstarken Mann erwartet. Hatte befürchtet, der Vater könnte ausfallend werden, könnte den hinausgeschobenen Beginn der Ermittlungen erwähnen und würde ihm drohen. Wenn er Ilanas Andeutungen richtig verstanden hatte, konnte Druck von Rafael Sharabi dazu führen, dass der Fall an eine Sonderermittlungseinheit unter Leitung eines ranghöheren Beamten oder sogar an die Zentrale Ermittlung übergeben wurde.
    Als er die Bürotür hinter sich geschlossen hatte, sagte Avraham: »Entschuldigung. Ein Anruf von einem unserer Außenermittler.«
    »Irgendetwas Neues?«, fragte der Vater.
    Avraham Avraham schüttelte den Kopf. »Bislang noch nicht. Wir werden sehen.«
    Der Körperbau und die Gesichtszüge des Vaters hatten etwas Weiches, beinahe Weibliches. Ein fülliger Typ, Mitte vierzig mit krausem, kurzgeschnittenem Haar, schwarz mit silberfarbenen Strähnen. Er war nur ein paar Zentimeter größer als Avraham Avraham. Sein Gesicht war rund und voll und von grauen Bartstoppeln bedeckt, als hielte er die siebentägige Trauerzeit ein. Avraham dachte an den Anblick, der sich ihm am

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