Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
ersten Tag der Ermittlungen in der Wohnung geboten hatte. Verwandte, Nachbarn, auf dem Tisch im Wohnzimmer Limonadeflaschen und Teller mit Knabbereien. Der Vater war unterdessen auf einem Schiff unterwegs nach Triest gewesen.
Rafael Sharabi unternahm keinen Versuch, ihm zu drohen oder die verspätete Aufnahme der Suche zu erwähnen. Geduldig und schweigend lauschte er Avrahams Bericht über den Gang der Ermittlungen. Am Ende bot er jede ihm mögliche Hilfe an. Seine Kollegen hätten sich bereiterklärt zu helfen, Verwandte ebenfalls. Hatte seine Frau ihm etwa nicht erzählt, dass Avraham sie am ersten Abend einfach vertröstet hatte? Vielleicht hatte sie befürchtet, er würde ihr Vorwürfe machen, weil sie nicht auf sofortige Suchmaßnahmen bestanden hatte? Aber Ofers Vater sah nicht wie jemand aus, von dem man etwas zu befürchten hatte.
Als sie sich begrüßt hatten, nahm der Vater Platz, und Avraham Avraham begann das Gespräch mit der Vermutung, es sei bestimmt schwer für ihn gewesen, weit weg auf hoher See zu sein, ohne eine Möglichkeit, umgehend nach Israel zurückzukehren.
»Ja. Aber was hätte ich tun können?«, erwiderte der Vater. »Ich bin unmittelbar zurückgeflogen, nachdem wir vor Anker gegangen sind.« Es klang, als würde er selbst irgendeines Vergehens beschuldigt.
Avraham Avraham dachte an das Meer. War es still oder stürmisch? Hielten sich die Seeleute während der gesamten Passage im Bauch des Schiffes auf, oder gingen sie, wenn sie eine Stunde frei hatten, an Deck, um frische Luft zu schnappen? War das Meer im Leben der Seeleute allgegenwärtig, oder war das Schiff nicht mehr als ein gewöhnlicher Arbeitsplatz, eine Art Büroturm, den man den ganzen Tag nicht verließ?
»Was bisher diese Ermittlung so schwierig für mich macht«, sagte er schließlich, »ist das Gefühl, dass ich nicht genug über Ofer weiß. Information, das ist die Hilfe, die ich benötige. Ihrer Frau fiel es schwer, über Ofers Leben zu erzählen, und ich kann sie verstehen. Aber ich muss mir ein vollständiges Bild machen können. Ohne das, zumal solange wir noch keine konkreten Befunde haben, denen wir nachgehen können, haben wir Schwierigkeiten, eine Ermittlungsrichtung festzulegen.«
Der Vater nickte. Und schwieg. Möglich, dass er noch weit weg auf hoher See war. Dass er Mühe hatte, sich von dem Gefühl freizumachen, nicht zu Hause gewesen zu sein, als man ihn dort brauchte.
»Wenn ich richtig verstanden habe, sind Sie öfter für längere Zeit verreist. Könnten Sie mir dazu Genaueres sagen? Wie lange sind Sie immer unterwegs und wie oft?«
»In der Regel mache ich kurze Passagen. Limassol, Türkei. Überfahrten von ein paar Tagen. Alle paar Monate auch mal längere Passagen, etwa nach Koper oder Triest. Nach jeder Fahrt bin ich für ein paar Tage zu Hause, manchmal sogar für zwei Wochen. Eher selten sind Arbeitstage im Hafen, von halb acht bis fünf, zur Wartung der Schiffe.«
Wo liegt dieses Koper?, dachte Avraham. Offenbar war es eine Hafenstadt am Mittelmeer oder vielleicht an irgendeinem anderen Meer.
Jedes Mal, wenn er im Verlauf einer Ermittlung ein Detail zu hören bekam, das ihm unbekannt war, hatte er das Gefühl, auf der richtigen Fährte zu sein. Und im Unterschied zu der Mutter machte der Vater den Eindruck, dass er etwas erzählen wollte. Dass er ihm eine Tür öffnen würde, auch wenn es im Augenblick nur die Tür zu einem Schiff war. Als er am Donnerstag und am Freitag im Beisein der Mutter Ofers Zimmer durchsucht hatte, hatte er hingegen das Gefühl gehabt, sie verweigere ihm den Zutritt zu ihrem Heim.
»Welche Funktion haben Sie?«
»Ich bin leitender Schiffsingenieur.«
»Ist das eine hohe Position?«
»Was heißt schon hoch? Eben eine Position, die man nach zwanzig Jahren im Job erreicht.«
»Und wie sind Sie zu diesem Beruf gekommen?«
Rafael Sharabi sah ihn erstaunt an, als läge die Antwort auf der Hand. »Ich war bei der Marine. Nach der Entlassung habe ich im Marineinstitut in Akko mehrere Ausbildungsgänge zum Schiffsmechaniker gemacht und mich danach beim Schifffahrtsunternehmen ZIM hochgedient.«
»Und das heißt, dass Sie das Kommando über das Schiff haben? Sie sind der Kapitän?« Avraham war sich nicht sicher, ob ein Schiff einen Kapitän haben musste.
»Nein, der Schiffsingenieur ist nur verantwortlich für die Maschinen eines Schiffes. Der Kapitän muss zudem noch nautische Patente erwerben. Er ist verantwortlich für das gesamte Schiff, einschließlich der
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