Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
Vielleicht war das zu viel.«
Noch immer hatte der Vater Ofers Schwester mit keinem Wort erwähnt.
»Sie würden also sagen, Ofer hat es nicht ganz leicht zu Hause?«
»Kann sein. Für mich war das ja natürlich, dass er mithilft. Ich habe nicht drüber nachgedacht, bis er verschwunden ist. Und er hat sich nie deswegen beklagt. Vor dem Gymnasium wollte er auf die Marineoffiziersschule gehen und in Akko im Internat wohnen. Ich habe nichts dagegen gehabt, aber Hannah wollte ihn bei sich zu Hause haben.«
Vorsichtig fragte Avraham: »Sie haben zu Hause klare Regeln, wann und mit wem er sich verabreden darf und wann nicht?«
»Nein, in dieser Hinsicht sind wir immer tolerant gewesen. Haben ihn gedrängt, abends rauszugehen, mit seinen Freunden etwas zu unternehmen. Am Abend, wenn die Kinder schlafen gegangen sind, braucht Hannah weniger Hilfe. Wir haben einfach zu viel Verantwortung auf seinen Schultern abgeladen. Vor allen Dingen, wenn ich nicht da war.«
Jetzt war sich Avraham sicher: Der Vater hatte keine Ahnung, dass sein Sohn am Freitagabend mit einem Mädchen, das ein Auge auf ihn geworfen hatte, ins Kino hatte gehen wollen. Und zwar wohl zum allerersten Mal.
»Was ist mit Freunden? Mit Mädchen?«, erkundigte er sich.
Und der Vater antwortete: »Ich glaube nicht, dass er schon mit Mädchen aus war. Aber das ist natürlich. Ich war auch schüchtern in seinem Alter. Ich denke, die Armee wird Ofer aufgeschlossener machen, so war es bei mir.«
»Hat er viel über die Armee gesprochen?«
»Er will zur Marine, und ich hab ihn immer darin unterstützt. Obwohl ich nicht möchte, dass er nach dem Militärdienst Seemann wird. Wissen Sie, wie stolz mich das gemacht hat, ihn lernen, Hausaufgaben machen, am Computer arbeiten zu sehen? Er hat mir beigebracht, im Internet zu surfen.«
Vier Stunden saßen sie in Avrahams Büro und redeten. Und je mehr Zeit verging, desto klarer wurde ihm, wie wichtig dieses Gespräch war. Nach dem beharrlichen Schweigen Hannah Sharabis verspürte er beinahe Dankbarkeit ihrem Mann gegenüber, weil der ihm Einblick in Ofers Leben gewährte.
Um halb zwölf verließ er den Raum, um in der Cafeteria des Technologischen Instituts das Mittagessen für sie beide zu ordern. Und zwei Cappuccino. Während er auf das Essen wartete, gönnte er sich auf dem Parkplatz eine Zigarette. Kaum hatte er sie angezündet, klingelte sein Mobiltelefon. Es war Seev Avni. Avraham Avraham fragte ihn, ob er morgen früh zur weiteren Befragung aufs Revier kommen könne, und der Nachbar erwiderte, er müsse bei seinem Sohn bleiben, und lud ihn zu sich in die Wohnung ein. Avraham zögerte kurz und schlug dann vor, Avni könne gleich heute Nachmittag kommen, so gegen fünf. Avni war einverstanden. Er fragte, wie er ihn auf dem Revier finden könne, und meinte dann: »Also, dann heute um fünf«, als wären sie zwei Freunde, die sich in einem Café verabredet hätten.
Eliyahu Maaluls Handy war abgeschaltet. Vielleicht war er gerade mitten im Gespräch mit der Gymnasiastin aus Kiryat Sharet. Widerstrebend rief Avraham auch Schärfstein an. Nach zehnmaligem Klingeln hob er endlich ab und erklärte, er arbeite an »einer interessanten Richtung«. Im Unterschied zu Maalul hatte er nicht angerufen, um ihm davon zu berichten. Aber Avrahahm war überzeugt davon, dass Schärfstein Ilana hingegen sehr wohl angerufen hatte. Er fragte: »Was hast du denn herausgefunden?«
»Ist noch nicht klar«, erwiderte Schärfstein, »ich werde dich informieren, falls es konkret wird. Also nur so viel: Es gibt hier jemanden im Viertel, der auf Bewährung draußen ist und ein ansehnliches Vorstrafenregister hat, Sexual- und Gewaltdelikte gegen Jugendliche. Hauptsächlich Fälle von Belästigung, aber du weißt ja, wie sich so etwas entwickeln kann. Noch bin ich dabei, Informationen über ihn zusammenzutragen, aber gut möglich, dass wir ihn bald aufs Revier bestellen. Möchtest du bei der Vernehmung dabei sein, wenn es dazu kommt?«
Ja doch, was für eine Frage.
Als er das Gespräch beendet hatte, war Avraham unschlüssig, ob er Ilana anrufen sollte, und entschied dann, bis nach dem Ende der Unterredung mit dem Vater zu warten. Schärfstein war es abermals gelungen, an seinem Nervenkostüm zu zerren, aber alles in allem fühlte er sich besser. Die Ermittlung war in Bewegung geraten, auch wenn noch nicht klar war, in welche Richtung sie laufen würde. Das Bild füllte sich allmählich mit Einzelheiten. Ofers Lebensgeschichte war kein
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