Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
sie denn?«
Der Vater schaute ihm in die Augen und erwiderte leise: »Sie ist auf einer Sonderschule.«
»Warum?«
»Sie leidet an einer Behinderung. Es ist eine gute Schule. Mit Ganztagsunterricht und sehr viel Hilfestellung.«
Ausgerechnet als der Vater ihm endlich etwas über seine Tochter erzählte, schien es Avraham Avraham, als müsste er ihm keine weiteren Fragen mehr stellen. Als wäre es ihm nur darum gegangen, dass sie aufhörten, die Existenz des Mädchens zu verleugnen. Trotzdem fragte er: »Also wohnt sie zu Hause? Sie ist nicht in einer Einrichtung untergebracht?«
»Nein, Hannah will das nicht. Sie ließ sich auch nur schwer dazu bewegen, sie auf eine Schule zu schicken, bis sie sieben war. Deshalb hat Hannah auch ihre Arbeit aufgegeben. Sie hat vorher in einem Kindergarten gearbeitet.«
»Und wie ist Ofer damit klargekommen?«
»Ich war der Meinung, wir sollten sie auf ein Internat schicken. Wegen der Kinder. Sicher ist es nicht leicht für Ofer. Aber er hilft ihr sehr. Und Hannah auch. Als er noch kleiner war, war es schwieriger. Er hat sich geschämt, hat in der Schule gesagt, er hätte keine Geschwister, wäre ein Einzelkind. Das war, bevor unser Jüngster geboren wurde. In den letzten Jahren hat er ihr immer geholfen.«
Avraham legte den Stift beiseite und dachte an die schweigende Mutter. Sie hatte ihre Arbeit aufgegeben, um bei der Tochter zu bleiben und sie nicht der Schlechtigkeit der Welt auszusetzen, und zu Hause hatte sie das Mädchen vor dem Vater beschützt, der es in eine Einrichtung geben wollte. »Wegen der Kinder«, also der Söhne.
»Wie heißt sie?«, fragte er schließlich.
»Ofer hat als Erster die Zeichensprache erlernt, weil sie sehr schlecht hört. Das ist Teil ihrer Behinderung. Sie heißt Danit.«
Sie kehrten zum Dienstag zurück, und Avraham nahm den Stift wieder zur Hand und schrieb. Gegen sieben Uhr hatten sie zu Abend gegessen, alle zusammen. Der Vater badete den jüngeren Sohn und brachte ihn dann ins Bett. Ofer sah im Wohnzimmer fern. Hanna Sharabi half Danit, sich zu waschen und ins Bett zu gehen. Als der kleine Bruder eingeschlafen war, ging Ofer in das gemeinsame Zimmer zurück und spielte, so vermutete es der Vater, am Computer, ohne Ton.
Ob Ofer noch E-Mails geschrieben oder telefoniert hatte, wusste Rafael Sharabi freilich nicht.
Um halb zehn gingen er und seine Frau noch aus, wie vor jeder Passage. Sie trafen sich mit einem befreundeten Paar in einem Café im Zentrum. Rafael Sharabi hatte keine Ahnung, was Ofer währenddessen gemacht hatte. Er wusste nur, dass der Junge, als sie – ziemlich früh, vielleicht um elf – wiedergekommen waren, bereits geschlafen hatte. Das sei nichts Außergewöhnliches. Dies sei so die Zeit, zu der Ofer für gewöhnlich schlafen gehe.
»Hatten Sie Streit an jenem Abend?«
»Wer?«
»Sie und Ihre Frau. Oder vielleicht Sie beide mit Ofer?«
»Nicht, dass ich wüsste. Weshalb?«
»Ich frage nur.«
»Nicht, dass ich mich erinnere. Manchmal ist die Stimmung ein bisschen angespannt, bevor ich verreise, aber ich erinnere mich an keinen Streit.«
»Und am nächsten Morgen?«
»Ich habe das Haus um fünf verlassen. Bin um Viertel nach vier aufgestanden. Hannah ist aufgewacht, und wir haben zusammen Kaffee getrunken. Ich bin dann mit dem Wagen nach Ashdod gefahren und habe ihn im Hafen abgestellt wie immer. Nach dem, was Hannah gesagt hat, war auch der Mittwochmorgen ganz normal, genau wie jeder Tag.«
Nur, dass Ofer an jenem Mittwochmorgen zur Schule aufgebrochen und dort nie angekommen war. Und seitdem als vermisst galt. Der Vater war nicht mehr im Kinderzimmer gewesen, bevor er gegangen war. Dennoch war er sicher, dass beide Söhne fest geschlafen hatten. Er hatte keinen Mucks aus ihrem Zimmer gehört.
Avraham Avraham überlegte, ob er all seine Fragen gestellt hatte. Da fiel ihm noch etwas ein: »Während Sie ausgegangen waren am Dienstagabend, kann es sein, dass Ofer da irgendwoher Geld oder eine Kreditkarte genommen hat, ohne dass Sie es bisher bemerkt hätten? Vielleicht aus einer Schublade, in der Sie Bargeld verstecken?«
»Ich verstecke nichts. In der Innentasche eines Jacketts in meinem Schrank ist Bargeld, und Ofer weiß, wo. Wenn ich nicht da bin, nehmen er und Hannah sich manchmal etwas. Eine Kreditkarte hat Ofer nicht. Und er hat auch sonst nichts genommen. Das war das Erste, was ich Hannah gebeten habe zu überprüfen.«
Avraham Avraham erinnerte sich, dass sie ihm davon erzählt hatte. »Und seit
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