Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
weißes Blatt mehr. Jetzt gab es eine Hochzeit, irgendwann Anfang der Neunziger, und einen jungen Vater, der gerade seine Ausbildung zum Schiffsingenieur abgeschlossen hatte und häufig für längere Zeit verreist war. Und eine Schwester mit Downsyndrom, deren Existenz zuzugeben die Familie sich schämte. Es gab Frachtschiffe, die Tausende von Containern transportierten, und Häfen auf Zypern und in Koper. Wegen der Abwesenheit des Vaters und der Behinderung der Schwester hatte eine schwere Last auf Ofers Schultern gelegen, keineswegs die Art von Verantwortung, an der man wuchs. Vielleicht im Gegenteil.
Neben der Familie und der Schule gab es für Ofer einen Freund namens Yaniv Nesher, gab es Computerspiele und ein Mädchen, dem er gefiel. Und mit dem er einen Film ansehen wollte. Außerdem gab es den Versuch, von zu Hause wegzukommen und in einem Internat zu wohnen, und den Wunsch, sich zum Dienst bei der Marine zu melden. Das Meer gewann zunehmend an Bedeutung in der Geschichte. Nicht das Meer, an das Avraham Avraham im Sommer alle paar Wochen fuhr, am Sabbat, ohne dort sein Hemd abzulegen. Nein, ein anderes Meer, ein Meer, das Arbeitsplatz war, und eine Entfernung bedeutete, die zwischen einem Vater und seinem Sohn, zwischen einer Frau und ihrem Mann lag.
Als Avraham die zweite Zigarette ausdrückte, rief Seev Avni erneut an und fragte, ob er irgendwelche Ausweispapiere oder andere Dokumente mitbringen müsse. Avraham antwortete, er solle seinen Personalausweis dabeihaben.
Woraufhin Avni entgegnete: »Mein Personalausweis ist schon etwas älter und nicht auf dem neuesten Stand. Ich habe unsere Anschrift noch nicht ändern lassen. Nach dem Ausweis wohne ich noch immer in Tel Aviv. Ist das ein Problem?«
Avraham Avraham erklärte, das sei schon in Ordnung, und beendete das Gespräch. Schon jetzt tat es ihm leid um die Stunden, die er im Gespräch mit diesem Lehrer verplempern würde. Doch vielleicht konnte er die Befragung auf Schärfstein abwälzen? Er lächelte. Eine hervorragende Idee.
In der letzten Stunde sprachen sie hauptsächlich über den Dienstag. Avraham bat Rafael Sharabi, die vierundzwanzig Stunden vor Ofers Verschwinden zu rekonstruieren und sich dabei nach Möglichkeit an alles zu erinnern, was irgendwie ungewöhnlich gewesen war.
»Das war am Tag, bevor wir ausgelaufen sind, also war ich fast die ganze Zeit zu Hause«, sagte der Vater. Er war um sechs Uhr aufgewacht und hatte den jüngsten Sohn und Ofer geweckt. Seine Frau weckte die Tochter. Noch immer erwähnte er die Behinderung nicht, als wäre Ofers Schwester ein ganz normales Mädchen. Um halb acht hatte ein Fahrdienst das Mädchen zur Schule abgeholt.
Avraham schrieb jedes Wort mit.
»Ist Ofer in den kleinen Laden gegangen?«, fragte er.
»Ich glaube, ja. Er geht eigentlich jeden Morgen dorthin, aber ich erinnere mich nicht. Ist das wichtig?«
Danach hatte der Vater den jüngsten Sohn in den Kindergarten gefahren. Ofer war zur Schule aufgebrochen, wie immer zu Fuß.
Was Hannah gemacht hatte, wusste der Vater nicht. Genau diesen Moment hatte Avraham Avraham sich am ersten Abend vorzustellen versucht, jenen Augenblick, in dem die Mutter plötzlich allein in der Wohnung war.
Nachdem er den Jüngsten im Kindergarten abgegeben hatte, erledigte der Vater ein paar Besorgungen. Fuhr zur Bank und dann nach Yaffo, um den Wagen durch den technischen Zulassungstest zu bringen. Dann holte er Hannah ab, und sie fuhren zusammen ins Industriegebiet, um einzukaufen.
Ofer kam als Erster nach Hause, gegen zwei, wie der Vater annahm, er wusste es aber nicht genau, da er sich über Mittag ein wenig hingelegt hatte. Er ging davon aus, dass Ofer mittags in der Regel allein aß, weil seine Geschwister erst später kamen. Vielleicht aß er auch manchmal mit Hannah. Rafael Sharabi erinnerte sich nicht, Ofer gesehen zu haben, nachdem er aufgewacht war, war sich aber sicher, dass der Junge zu Hause geblieben war, wie es die Mutter ausgesagt hatte. Er hatte offenbar in seinem Zimmer Hausaufgaben gemacht oder sich auf eine Klausur vorbereitet.
Rafael Sharabi packte im Schlafzimmer seine Tasche für die Reise, und seine Frau half ihm dabei. Ob Ofer eventuell im Nebenzimmer telefonierte, konnte der Vater im Nachhinein nicht sagen. Der Jüngste kam um vier nach Hause, die Mutter eines Kindergartenfreundes brachte ihn. Die Tochter kam nach fünf Uhr.
Bei dieser Information konnte Avraham nicht länger an sich halten und rief: »So spät? Auf welcher Schule ist
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