Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
sie, es habe gar keinen Streit gegeben.
Er holte auch die Aussagen weiterer Nachbarn ein, die einen lautstarken Wortwechsel hätten mitbekommen können, aber die direkten Nachbarn, die zusammen mit Familie Sharabi im dritten Stock wohnten, waren just an jenem Abend auf einer Bar-Mizwa-Feier gewesen.
Auch auf Seev Avni war er zu sprechen gekommen. Rafael und Hannah Sharabi sagten aus, sie hätten den Nachhilfeunterricht auf Ofers Bitte hin beendet. Er habe das Gefühl gehabt, jetzt gut genug in Englisch zu sein, und habe um Nachhilfe in Mathematik gebeten. Die Eltern hätten den Privatlehrer gemocht und seinen Einsatz für ihren Sohn wirklich zu schätzen gewusst, aber Ofer habe sich nachdrücklich geweigert, weiter bei ihm zu lernen. War etwas zwischen ihnen vorgefallen? Hatte Avni Ofer in irgendeiner Weise verletzt? Ganz und gar nicht, soviel sie wüssten, erklärten die Eltern. Ofer habe darauf beharrt, keine Nachhilfe in Englisch mehr zu benötigen, und sie hätten seine Meinung akzeptiert.
Avraham Avraham hatte daraufhin Eliyahu Maalul gebeten, sich ganz informell mit Avnis Schulleiter zu treffen. Maalul war an Avnis freiem Tag gekommen. Er hatte versucht, den Schulleiter zu beruhigen, und betont, die Polizei habe keinerlei Hinweise auf ein Vergehen des Lehrers, aber zugegeben, dass dieses Gespräch Avni möglicherweise in gewissem Sinne schaden konnte. Das war nicht zu vermeiden gewesen. Es hatte jedoch auch in der Schule nichts gegen ihn vorgelegen. Vor zwei Jahren hatte ein Schüler einmal behauptet, Avni hätte ihn bei einer Prüfung vorsätzlich durchfallen lassen, doch besagter Schüler war als notorischer Querulant bekannt. Avni hatte auch keine Probleme mit der Disziplin in seinen Klassen, obgleich er nicht zu den besonders beliebten Lehrern gehörte.
Der Schulleiter hatte gefragt: »Habe ich Grund zur Sorge? Meinen Sie, ich sollte ihn vorübergehend vom Dienst freistellen oder ihn im Auge behalten?«
Und Maalul hatte geantwortet: »Freistellen fürs Erste nicht, im Auge behalten immer.«
Die Hinweise aus der Bevölkerung, die ohnehin schon dürftig gewesen waren, wurden immer spärlicher. Am Dienstag startete die Polizei in Tiberias eine Suchaktion, nachdem jemand zwei Jugendliche – die Beschreibung des einen passte in etwa auf Ofer – gemeldet hatte, die Haschisch geraucht hätten und in eine Schlägerei am See Genezareth verwickelt gewesen seien. Am Mittwoch rief Ilana vor acht Uhr am Morgen an, um mitzuteilen, ein Jugendlicher aus Cholon werde seit den Nachtstunden vermisst. Doch das war ein Fehlalarm. Der Junge unterschied sich deutlich von Ofer, war Punker oder Anarchist und wurde mittags in der Wohnung seiner Freundin aufgefunden. Vollkommen bekifft lag er, bekleidet nur mit Boxershorts und Springerstiefeln, im Bett ihrer Eltern.
Die Tage vergingen, und die Sorge um Ofers Schicksal wuchs. Es blieb keine andere Möglichkeit mehr, als sich nun direkt an die Fernsehanstalten zu wenden, und am Mittwochnachmittag, genau eine Woche nach Ofers Verschwinden, wurde die Pressemitteilung formuliert. Es war Ilanas Entscheidung, wegen der Avraham Avraham den ganzen Donnerstag über mit Redakteuren und Produktionsassistentinnen telefonierte. Niemand war begeistert von der Geschichte, weil es keine Geschichte gab, wie einige ihm unverblümt sagten. Eine junge Redakteurin fragte ihn, ob er denke, dass von einer Entführung oder einem Mordfall die Rede sei, und ob er vorhabe, das in der Sendung auch anzudeuten. Wenn nicht, wäre eventuell für die Meldung kein Platz im Programm. Am Ende wurden ihm dreieinhalb Minuten in Rafi Refeshs Sendung zugestanden. Sein Auftritt wurde am Donnerstag aufgezeichnet, jedoch erst am Sonntag ausgestrahlt, als er schon im Flugzeug saß. Und die ganze Zeit über drohte ihm wie eine dunkle, schwere Wolke, die sich zusammenballte und irgendwann ihre Schleusen öffnen würde, der Verlust der Ermittlung.
Jean-Marc holte ihn am Montagmorgen in einem neuen, dunkelblauen Peugeot aus dem Hotel ab. Der Brüsseler Kollege trug eine elegante graue Hose, einen dünnen blauen Pullover und wirkte frisch und ausgeruht, als hätte er das ganze Wochenende geschlafen. Er stieg aus dem Wagen und umarmte ihn.
Die Straßen waren noch dunkel, und der Asphalt glänzte vom Regen. Jean-Marc fuhr wie ein Irrer. In der Tiefgarage, in der ihre Fahrt endete, standen Streifenwagen und Mannschaftsbusse.
Für halb neun war in der Division Centrale der Brüsseler Polizei eine Krisensitzung anberaumt
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