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Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst

Titel: Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dror Mishani
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worden. Mehr als fünfzehn Ermittler und andere Mitarbeiter der Einheit saßen um einen ovalen Konferenztisch versammelt. Alle hielten dampfende Pappbecher in der Hand. Avraham Avraham hatte hinter ihnen auf einem Stuhl direkt an der Wand Platz genommen. Durch ein Fenster konnte er den grauen, bleiernen Himmel sehen. Auf einer ausladenden Tafel in der Ecke des Besprechungszimmers hingen Karten und Diagramme. Von einem Laptop wurden über Beamer Bilder und kurze Videosequenzen auf eine Leinwand projiziert. Sie waren auf dem Kartoffelacker, wo man die Leiche entdeckt hatte, aufgenommen worden. Johanna Getz war erdrosselt worden. Sie war bekleidet aufgefunden worden, aber ihr unterer Bauchbereich und ihr Rücken waren von Hämatomen übersät.
    Nach einer Stunde wurde eine kurze Pause eingelegt. Jean-Marc fragte Avraham auf Englisch mit starkem französischem Akzent: »Alors, was meinst du?«
    Er erwiderte: »Ich hab nicht ein Wort verstanden.«
    Sie kamen überein, dass er in einem Café gegenüber des Kommissariats warten sollte, während Jean-Marc klären würde, ob er einen Dolmetscher bekommen konnte und wie seine Fortbildungsmaßnahme, überschattet von der auf Hochtouren laufenden Ermittlung, vonstattengehen sollte. Die Brüsseler Polizei hatte wahrlich andere Sorgen. »Du bist in der falschen Woche gekommen«, meinte Jean-Marc achselzuckend.
    Wenigstens war der Kaffee in dem kleinen Bistro ausgezeichnet. Avraham saß vor einem bodentiefen Fenster, das auf die Straße hinausging. Es war schon fast zehn Uhr morgens, doch die Sonne ließ sich noch immer nicht blicken.
    Die Division Centrale war in einem fünfstöckigen Gebäude untergebracht, das aus kleinen, pastellbraunen Klinkern gemauert war. Die schmalen hohen Fenster der Ermittlerbüros waren mit alten braunen Holzrahmen versehen. Warmes, honigfarbenes Licht drang aus den Räumen, und Avraham Avraham dachte, dass man wohl kaum auf die Idee kam, dass dort drinnen Mörder, Vergewaltiger und Junkies verhört wurden. Von außen sah das Gebäude wie eine Bücherei aus. Durch eines der Fenster im ersten Stock konnte er eine antike Holzkommode sehen, auf der drei Uniformmützen lagen. Blau, weiß und schwarz.
    Am liebsten wäre es Jean-Marc wohl gewesen, wenn Avraham zu ihm gesagt hätte: »Vergiss den Dolmetscher. Gib mir die Adresse von zwei netten Puffs in Brüssel und wir sehen uns, wenn überhaupt, Ende der Woche wieder.«
    Denn genau so hatte es Jean-Marc bei seinem Besuch in Israel gehalten. Das Revier hatte er nur mit einem kurzen Besuch beehrt, hatte Avraham auf einen Rundgang durch das Hauptkommissariat in Tel Aviv begleitet und dort auch Ilana getroffen. Die übrige Zeit hatte er, obgleich es eigentlich noch Winter war, sonnenbadend am Strand verbracht und sich »saubere, ordentliche Etablissements, wo man schön einen draufmachen kann«, gesucht. An einem der Tage hatte Avraham ihn nach der Arbeit in ein gutes Restaurant an der Strandpromenade eingeladen. Doch der Gast hatte sich nicht im mindesten für die Ermittlungen interessiert, an denen sein Gastgeber versuchte, ihn teilhaben zu lassen, sondern hatte zu seinem Fisch zwei Flaschen Weißwein geleert.
    Nach anderthalb Stunden in dem kleinen Café war Avraham Avrahams Geduld am Ende, und er brach auf.
    Das Gebäude der Division Centrale lag an der Ecke zweier kleiner, malerischer Straßen, der Rue du Midi und der Rue du Marché au Charbon, inmitten eines besonders alten Teils der Stadt, wie ihm schien. Die Straßen im Viertel waren schmal und gepflegt, und die uralten Häuser so schief, dass sich ihre Dächer beinahe berührten wie die Kronen windgebeugter Bäume. Überall lockten teure Geschäfte: Antiquitätenläden, Chocolaterien und viele kleine Galerien, die in blanken Schaufenstern abstrakte Arbeiten präsentierten, die für Avraham keinen Sinn ergaben. Als hätten sie in Belgien vergessen, wie man ein einfaches Bild malte, von einem dunklen, wolkenverhangenen Himmel oder einem Baum oder einer jungen Frau, die auf einem Kartoffelacker lag.
    Vor dem Polizeipräsidium war er einigermaßen erstaunt, eine Lokalität mit Namen Homoerectus vorzufinden, eine Schwulenbar mit Galerie. Noch fassungsloser war er, als sich herausstellte, dass das schmale Sträßchen ihn geradewegs zum Grote Markt führte, dem einzigen Ort in Brüssel, von dem er wusste, dass er ihn gesehen haben musste. Avraham Avraham verstand allerdings nicht, warum der Schriftsteller Victor Hugo ihn den »schönsten Platz in Europa«

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