Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
genannt hatte.
Und Eliyahu Maalul hatte noch immer nicht angerufen.
Maalul, der seine einzige Chance war, die Kontrolle über den Fall nicht zu verlieren. Er hatte versprochen, Avraham Avraham jeden Tag anzurufen und ihn auf dem Laufenden zu halten über die Routineüberprüfung der Krankenhäuser, die sie am Morgen fortsetzen wollten, und über mögliche Hinweise aus der Bevölkerung nach dem Fernsehauftritt. Am Sonntag, bevor Avraham zum Flughafen gefahren war, hatte Maalul zu ihm gesagt: »Avi, ich weiß, was du befürchtest. Aber mach dir keine Sorgen, ich bin ja hier und halte dir den Rücken frei.«
Am Dienstag und am Mittwoch dackelte er weiterhin hinter Jean-Marc her. Ohne Dolmetscher. Seitdem das Schengener Abkommen in Kraft getreten war und auch die Zuwanderung aus Osteuropa und Afrika stark zugenommen hatte, war in Brüssel die private Nutzung von Überwachungskameras in Mode gekommen. Daher hatte die Polizei Bilder von Johanna Getz, in psychedelischen Grüntönen und aus einem verzerrenden Winkel aufgenommen, wie sie am Sonntagabend in einem Pub Bier trank, wenige Stunden bevor sie aus ihrer Wohnung entführt worden war, und Bilder, auf denen sie zu sehen war, wie sie auf dem Nachhauseweg in einem Supermarkt eine Tiefkühlpizza, eine Flasche Milch und Zigaretten kaufte. Eine weitere Kamera, die in ihrer Straße installiert war, hatte sie, Sekunden bevor sie das Haus betreten hatte, aufgezeichnet. Die junge Frau war groß und schlank, hatte blondes Haar und wirkte nicht betrunken.
Was bringt ihnen das?, dachte Avraham. Sie wussten doch, dass sie in der Wohnung gewesen war. Natürlich, die Überwachungskameras hätten jemanden filmen können, der sie verfolgt hatte. Aber da war niemand. Die Kameras hatten auch nicht den Augenblick aufgezeichnet, in dem man sie aus der Wohnung geschafft hatte.
Außerdem waren die belgischen Kollegen ganz aus dem Häuschen ob der Tatsache, dass die Leiche bekleidet, aber ohne Schuhe gefunden worden war und dass einer ihrer rosafarbenen Strümpfe fehlte. Jean-Marc sprach so eindringlich mit ihm über den fehlenden Wollstrumpf, als wären sie zwei Charaktere aus einem Roman von Agatha Christie. Im Fernsehen wurden Bilder des anderen, noch vorhandenen Strumpfs gezeigt. Glaubten sie etwa, der Mörder hatte den Strumpf als Andenken mitgenommen? »Wir bitten die Bevölkerung, jeden zu melden, in dessen Wohnzimmer ein rosafarbener Damenstrumpf hängt …«
Außerdem waren die Gerichtsmediziner zu der Einschätzung gelangt, die Leiche habe mehrere Tage auf dem Kartoffelacker gelegen. Vielleicht hatte irgendein einheimischer Nager den Strumpf von dem erkalteten Fuß gezogen? Avraham Avraham dachte, dass es vielleicht doch ganz gut war, dass es auf Hebräisch nicht zu viele Kriminalromane gab und Ermittlungsbeamte sie nicht lasen.
In der Zwischenzeit und um die Öffentlichkeit zu beruhigen, beeilte sich die Brüsseler Polizei, zwei Tatverdächtige festzunehmen: Johannas Lebensgefährten, der das Wochenende, an dem sie verschwunden war, in Antwerpen verbracht hatte, und den Eigentümer der von ihnen bewohnten Wohnung, einen zweiundsechzig Jahre alten verschrobenen Junggesellen, der im dritten Stock desselben Hauses lebte. Er war pensionierter Lehrer und Direktor an einer Grundschule gewesen. Auf den Bildern sah er aus wie ein Psychopath. Die Parallelität der Umstände ließ Avraham abermals schaudern. Jean-Marc war nicht an den Verhören beteiligt, die von den beiden dienstältesten und ranghöchsten Beamten der Division Centrale durchgeführt wurden.
Am Donnerstag erschien der belgische Kollege nicht, um ihn vom Hotel abzuholen. Man hatte ihn frühmorgens ans andere Ende der Stadt beordert. Mittags rief er an, um sich zu entschuldigen, und schlug Avraham Avraham vor, die nächsten beiden Tage in Brüssel als Tourist zu verbringen. Als Entschädigung wartete eine Einladung zum Abendessen mit der ganzen Familie im Haus von Jean-Marcs Eltern am Freitagabend. Avraham Avraham versuchte sich in Ausflüchten, doch Jean-Marc bestand ausgerechnet auf diesem Abendessen. Sein Vater und sein Bruder waren ebenfalls Polizisten, und die Unterhaltung mit ihnen, auf Englisch, würde wie eine Fortbildungsmaßnahme sein. Am Samstag, Avrahams letztem Tag in Brüssel, versprach sein Gastgeber, ihn ins beste Muschel-Restaurant der Stadt zu führen.
Die Dame am Empfang versuchte, Avraham Avraham in lückenhaftem Englisch mit spanischem Akzent zu erklären, wie er ins Stadtzentrum käme. In
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